Institut für Menschenrechte in Chile zieht Bilanz der Repression

Regierung soll endlich Details über die Opfer und Todesumstände bekannt geben. Bewohner von Arbeitervierteln organisieren Selbsthilfe und politische Versammlungen

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"Hier wird gefoltert" - Protest gegen Folter an Demonstranten durch Soldaten
"Hier wird gefoltert" - Protest gegen Folter an Demonstranten durch Soldaten

Santiago. Nach Daten des Nationalen Instituts für Menschenrechte (INDH) in Chile vom 28.Oktober sind seit Beginn der Proteste vor rund zehn Tagen bislang 120 gerichtliche Schritte wegen Menschenrechtsverletzungen eingeleitet worden. Darunter fünf wegen Mordes durch Polizei oder Militär und 94 wegen Folter, hiervon 18 mit sexualisierter Gewalt. Zudem sind mehr als 3.500 Menschen inhaftiert, mehr als 1.100 verletzt worden – beinahe 600 durch Schusswaffen. Nach offiziellen Angaben sind bisher 20 Menschen ums Leben gekommen. Das INDH hat die Regierung angehalten, endlich die Details in Bezug auf Alter, Geschlecht, Region und Todesursache der Opfer transparent zu machen.

Soziale Organisationen fordern verstärkt den Rücktritt von Präsident Sebastian Piñera sowie die Aufdeckung der Menschenrechtsverletzungen und erarbeiten politische Alternativen, so auch im Arbeiterstadtteil Lo Hermida in Chiles Hauptstadt Santiago. Die Repression ist besonders in den Arbeitervierteln stark. Seit Beginn der Proteste organisieren Bewohner und soziale Organisationen in Lo Hermida deshalb Gesundheitskommissionen. "Verletzte Menschen erhalten Erste Hilfe und werden zu den nächstgelegenen Gesundheitszentren begleitet", erklärt Jonathan Sepúlveda, Bewohner und Vorsitzender des Nachbarschaftstreffs 18, gegenüber amerika21. Zudem begleiten Selbsthilfegruppen Nachbarn, die aufgrund der Präsenz und Brutalität des Militärs unter posttraumatischen Belastungsstörungen leiden.

Soziale Organisationen interessieren vor allem aber politische Alternativen: "Wir werden nicht zulassen, dass die bürgerlichen politischen Parteien und die politische Elite Chiles die Stimme der Bevölkerung wiedererobern, wie es uns bereits mit dem Ende der Diktatur widerfahren ist", betont Sepúlveda. Hierfür organisiert der Nachbarschaftstreff täglich Versammlungen auf verschiedenen Plätzen im Stadtteil, in denen die Nachbarn ihre Forderungen an den Staat nennen.

Laut Virna Vergara, Bewohnerin von Lo Hermida, die sich bereits während der Militärdiktatur organisiert hat, konfrontieren die Proteste "die Machtgruppen, die in den letzten drei Jahrzehnten ihre sozialen und wirtschaftlichen Privilegien erworben haben". Neben einem würdigen Zugang zu Gesundheit, Bildung und Rente gehe es um auch indigene Rechte und Regeln gegen den Rohstoffextraktivismus, so Vergara im Gespräch mit amerika21.

Die Forderungen der Nachbarn aus den Versammlungen werden jetzt zusammengetragen. Ziel sei es, mit anderen Vierteln in den Austausch zu gehen und mit einer Stimme für die östliche Metropolregion Santiago de Chiles zu sprechen, führt Sepúlveda aus. "In dieser neoliberalen Gesellschaft, in der nur diejenigen mit Geld Zugang zu sozialen Rechten haben, müssen wir für eine bessere Zukunft für unsere Kinder eintreten“, sagte Vergara.

Die Ankuft von Experten der Vereinten Nationen, die nach den zahlreichen Übergriffen durch Polizei und Armee während des Ausnahmezustands zur unabhängigen Beobachtung der Situation in Chile am vergangenen Montag erwartet wurde, ist indes aus unbekannten Gründen verschoben worden.