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Mysteriöse Giftwolke: Umweltskandal erschüttert Chile

Anwohner klagen über Atemprobleme und Erbrechen. Ratlosigkeit über Ursache und Verantwortliche. Hemmungslose Entwicklung der Industrie

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Industrie in der Bucht von Quintero, Chile
Industrie in der Bucht von Quintero, Chile

Quintero, Chile. Nach einem mysteriösen Zwischenfall in der chilenischen Küstenstadt Quintero wächst die Kritik an der ortsansässigen Industrie und an der Regierung des konservativen Präsidenten Sebastián Piñera. In der ohnehin durch Umweltverschmutzung belasteten Region kam es in den vergangenen zwei Wochen zu drei Zwischenfällen: Hunderte Anwohner mussten wegen Atemproblemen, Schwindel, tränenden Augen und Erbrechen behandelt werden, der Schulunterricht wurde ausgesetzt. Die Behörden verteilten Atemmasken an die Bevölkerung und forderte sie auf, sich möglichst nicht im Freien aufzuhalten.

Quintero ist eine kleine Küstenstadt mit etwa 30.000 Einwohnern, rund 30 Kilometer nördlich der Hafenstadt Valparaiso. Die Industrialisierung des Küstenstreifens begann in den 1960er Jahren. Heute befinden sich dort Kohlekraftwerke, Chemiebetriebe, erdölverarbeitende Großanlagen und ein Industriehafen. Das ungehemmte Wachstum der Industrie und die daraus resultierenden Umweltprobleme brachte der Region den Beinahmen "Opferzone" (Zona de Sacrificio) ein, weil sie – so die landläufige Meinung – der Industrie ohne Kontrolle überlassen wurde.

Die Politik reagierte auf die jüngsten Zwischenfälle hektisch. Präsident Piñera reiste an, wurde aber von wütenden Demonstranten empfangen und machte schnell ortsfremde und radikalisierte Gruppen für den Unmut aus. Umweltministerin Carolina Schmidt Zaldívar identifizierte das staatliche Unternehmen Enap als Verursacher. Enap betreibt in Quintero eine Anlage zur Gasverarbeitung.

Von Seiten der Firma wurde umgehend dementiert. Tatsächlich ist lediglich klar, dass wohl eine Mischung aus Isobuthan, Nitrobenzol und Trichlorethan (Trivialname Methylchloroform) für die Vergiftungen verantwortlich ist. Den Nachweis einer eindeutigen Quelle gibt es nicht. Enap hat umgehend eine unabhängige Umweltstudie in Auftrag gegeben und der stellvertretende Präsident, Gonzalo de la Carrera trat aus Protest gegen die Schuldzuweisungen zurück.

Am Donnerstag meldete sich dann die Betriebsgewerkschaft zu Wort. Sie beschuldigt die Regierung der Untätigkeit und Vorverurteilung. Präsident Piñera und seine Minister wollten die Zwischenfälle offenbar dazu benutzen, die Firma zu privatisieren. Diese Vermutung ist nicht so sehr aus der Luft gegriffen: Piñera hatte während seiner ersten Regierung die sogenannte Revolution von Magallanes provoziert. Die südlichste Region Chiles ist hochgradig vom Gas abhängig, da während des ganzen Jahres geheizt werden muss. Die Regierung hatte die Preissubventionen gekürzt, worauf die Bevölkerung die wenigen Zufahrtstraßen blockierte und Magallanes vom restlichen Chile abschnitt, bis ein Kompromiss akzeptiert wurde. Auftraggeber der Preiserhöhung: Piñera, Ausführender: Enap. Kritiker vermuten, dass sich die Regierung derartige Probleme vom Hals schaffen und gleichzeitig etwas Geld in die Staatskasse spülen möchte, um ansonsten alles dem Markt zu überlassen. Die Gewerkschaften schließen landesweite Streiks gegen mögliche Privatisierung und aus Solidarität mit der betroffenen Bevölkerung nicht aus.

Zugleich wurden erneut enge Kontakte zwischen Politik und möglichen anderen Verursachern der Katastrophe bekannt. Fernando Barros, langjähriger Rechtsanwalt Sebastián Piñeras und Berater beim Aufkauf von bankrotten Firmen, die danach benutzt wurden, die Steuern von rentablen Teilen des Wirtschaftsimperiums Piñeras zu drücken, ist Präsident von Oxiquim. Während 17 Jahren war er auch Sozius des Ehemanns der heutigen Umweltministerin im Rechtsanwaltsbüro Barros & Errázuriz. Dennoch bringt niemand aus dem Regierungspalast oder vom Umweltministerium Oxiquim als mögliche Quelle der Giftwolken ins Gespräch.