Debatte um Nicaragua erfasst deutsche Solibewegung

Aufruf gegen Regierung von Präsident Daniel Ortega provoziert Gegenappell. Ist es die Aufgabe der Solidaritätsbewegung, den Sturz einer Regierung zu fordern?

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Angriff von Regierungsgegnern auf den Radiosender Tu Nueva Radio Ya in Nicaragua
Angriff von Regierungsgegnern auf den Radiosender Tu Nueva Radio Ya in Nicaragua

Berlin. In der deutschen Lateinamerika-Solidaritätsbewegung ist es zu einer offenen Kontoverse um die Haltung zu den andauernden Protesten gegen die Regierung von Präsident Daniel Ortega in Nicaragua gekommen. Nachdem das in Wuppertal ansässige Informationsbüro Nicaragua einen Aufruf gegen die amtierende Regierung veröffentlicht hat, antwortete das Nicaragua-Forum Heidelberg mit einer Stellungnahme, die eine direkte politische Einflussnahme aus Europa auf den innenpolitischen Konflikt in dem mittelamerikanischen kritisch hinterfragt. Parallel zur Diskussion in Deutschland ringt auch die lateinamerikanische Linke um ihre Position gegenüber den Protesten und den staatlichen Reaktionen in Nicaragua.

Das 1978 – ein Jahr vor der Sandinistischen Revolution – gegründete Informationsbüro Nicaragua hatte in seinem Aufruf die amtierende Regierung unter Führung der Linkspartei Sandinistische Nationale Befreiungsfront (FSLN) direkt mit der 1979 gestürzten Diktatur von Anastasio Somoza verglichen. "Heute, 39 Jahre nach dem Sieg der Revolution, ist in Nicaragua wieder ein Volksaufstand im Gange", heißt es in dem Text. Er richte sich erneut gegen ein autoritäres Regime, das die Menschenwürde und demokratische Freiheiten mit Füßen trete. "Doch diesmal ist der Aufstand unbewaffnet und wendet sich gegen das Regime des einstigen Revolutionskommandanten Daniel Ortega und seiner Frau und Vizepräsidentin Rosario Murillo" schreiben die Wuppertaler Aktivisten.

Die Autoren des Aufrufes und knapp 300 Unterzeichner, darunter einige westdeutsche Lateinamerika-Wissenschaftler, geben an, "die Forderungen der Protestbewegung" aus Nicaragua zu unterstützen: "vorbehaltlose international überwachte Aufklärung und Bestrafung der Verantwortlichen für die Repression und die von ihnen begangenen Verbrechen; sofortiger Rücktritt der amtierenden Regierung und der Polizeiführung sowie Bildung einer Übergangsregierung unter breiter Partizipation der sozialen Bewegungen."

In einem weiteren Aufruf entgegnete das vor gut 30 Jahren gegründete Nicaragua-Forum aus Heidelberg, das Wuppertaler Papier enthalte "einige gute Gedanken, aber auch viele Halbwahrheiten und anmaßende Forderungen". Mit dem "Hochmut einer enttäuschten Solidaritätsbewegung" fordere es den Sturz der 2016 mit hoher Wahlbeteiligung wiedergewählten Regierung. "Wir sind der Meinung, der Aufruf setzt in dieser Situation ein falsches Zeichen. Die Übernahme der Forderungen einer Seite verschärft den Konflikt und zeigt keinen Weg auf, wie an einer Lösung gearbeitet werden kann", heißt es in der Stellungnahme. Die Menschen in Nicaragua müssten aber auch in Zukunft miteinander leben. "In der aktuellen Situation verstehen wir es als Aufgabe der Solidarität, aus der Logik der Unterstützung von nur einer Seite hinauszukommen. Solidarisch zu sein bedeutet für uns in der aktuell schwierigen Situation eine vermittelnde Position einzunehmen", so der Text weiter. Die jeweils eigenen Sichtweisen, Positionen und Wünsche für Nicaragua sollten hinter der Aufgabe der Versöhnung im Land zurückstehen.

Parallel zu der Debatte in Deutschland ist es auch unter linken Kräften in Lateinamerika zu einer Kontroverse um die Positionierung gegenüber Nicaragua gekommen. Der ehemalige Guerillero und Präsident (2010-2015) von Uruguay, José Mujica, hatte die Regierung von Ortega vor gut einer Woche als autokratisch kritisiert. und den Präsidenten zum Rücktritt aufgefordert. Obwohl ihn eine lange gemeinsame Geschichte mit vielen Akteuren auf Regierungsebene in Nicaragua verbinde, müsse er konstatieren, dass die Regierung "von Weg abgekommen" und "in der Autokratie angekommen" sei, so Mujica.

Widerspruch an diesen Äußerungen gab es unter anderem vom amtierenden Präsidenten der verfassunggebenden Versammlung in Venezuela, Diosdado Cabello. Mujica sei "von seinem Ego beherrscht", entgegnete Cabello in seiner wöchentlichen Fernsehsendung. Mujica müsse einsehen, "dass die Geschehnisse in Nicaragua denen in Venezuela ähneln". Auch in dem südamerikanischen Land war es mehrfach zu heftigen, gewalttätigen Protesten von Regierungsgegnern gekommen. Die venezolanische Regierung machte dafür ausländische Interessen und Financiers verantwortlich.

Trotz zunehmender Kritik von Teilen der lateinamerikanischen Linken an den dortigen Regierungen hatte auch die Abschlusserklärung des Forums von São Paulo sehr deutlich die Solidarität der Mitgliedsparteien und -organisationen mit Venezuela und Nicaragua betont. Die politischen Führungen in beiden Staaten würden derzeit Opfer interner und externer Aggressionen, heißt es in dem Dokument des Zusammenschlusses linker Kräfte Lateinamerikas und der Karibik.