Bonner Regierung schützte Colonia Dignidad bis kurz vor Ende der Diktatur in Chile

Außenamt trotz früher Berichte bis 1987 untätig. BND wusste 1966 von "KZ-ähnlichen Methoden" in der Sekte. Bundestagsbeschluss von 2002 kaum umgesetzt

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Bayerische Idylle im ehemaligen Folter- und Todeslager: Die Colonia Dignidad heißt heute Villa Baviera
Bayerische Idylle im ehemaligen Folter- und Todeslager: Die Colonia Dignidad heißt heute Villa Baviera

Berlin. Westdeutsche Behörden hatten früher als bisher bekannt Hinweise auf Verbrechen in der deutschen Sektensiedlung Colonia Dignidad in Chile. Zugleich deckten Bonner Diplomaten das Regime von Sektenchef Paul Schäfer bis 1987 und damit bis zur Endphase der Diktatur von Augusto Pinochet. Das geht aus den Antworten der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion im Bundestag hervor, die amerika21 vorliegt. Neu ist vor allem die Angabe zum Auslandsgeheimdienst BND. Dieser habe bereits im Jahr 1966 Kenntnis von "KZ-ähnlichen Methoden" in der Colonia Dignidad gehabt. Zur weiteren Arbeit und zum Informationsstand des BND während der Zeit der Colonia Dignidad in Chile macht die Bundesregierung keine darüber hinaus gehenden Angaben.

Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) hatte Ende April eine teilweise Öffnung der Archive zur Rolle der westdeutschen Diplomatie bei den Verbrechen in der Colonia Dignidad in Chile bekanntgegeben. Normalerweise betrage die Sperrfrist für Dokumente 30 Jahre, sagte Steinmeier bei einer Rede vor hunderten Gästen im Auswärtigen Amt. Er habe unter dem Eindruck der aktuellen Debatte aber entschieden, diese Frist um zehn Jahre zu verkürzen. "Damit machen wir die Akten der Jahre 1986 bis 1996 für Wissenschaftler und Medien zugänglich," so der Minister. Der Vorstoß war nach Angaben von Mitarbeitern des Auswärtigen Amt intern sehr umstritten.

Tatsächlich bestätigt die Bundesregierung in ihren Antworten nun, dass alle Akten von 1961, dem Jahr der Gründung der Colonia Dignidad, bis 1986 freigegeben sind. Bei den Beständen ab 1997 seien 88 Archivakten noch nicht freigegeben. Von den archivierten Verschlusssachen wurden alle bis zum Jahr 1996 offengelegt. Die Öffnung der Archive betrifft demnach nicht nur das Auswärtige Amt, sondern auch das Bundeskanzleramt und den BND. Der Wert der Freigaben ist jedoch wegen der kaum zu bewältigenden Menge von Akten unklar. Einer unabhängigen Historikerkommission, wie sie der BND für die Zeit von 1945 bis 1968 finanziert, verschließt sich das Auswärtige Amt "zur Zeit" noch.

Die Antworten der Bundesregierung zeigen auch, dass die Aufklärung hinter einem Antrag des Bundestags aus dem Jahr 2002 zu Hilfsmaßnahmen für die Opfer der Colonia Dignidad zurückbleibt. Damals hatten sich alle Fraktionen bei Enthaltung der Unionsfraktion für zahlreiche konkrete Maßnahmen ausgesprochen. Mit der Initiative von Außenminister Steinmeier kommen die damals verlangte politische Priorisierung des Falls und die "Unterstützung des vergangenheitsbezogenen Aufarbeitungsprozesses" in Chile nun langsam in Gang. Nicht umgesetzt wurden hingegen

  • die Einsetzung einer unabhängigen bilateralen Expertenkommission mit deutscher Beteiligung;
  • die Erarbeitung eines Strategiepapiers zur Lösung der Probleme in und um die Sektensiedlung;
  • die Entsendung von Experten den Bundeskriminalamtes zur Unterstützung der chilenischen Justiz;
  • die Schaffung eines Fonds zur Finanzierung der notwendigen Hilfs- und Reintegrationsmaßnahmen;
  • eine Kooperation mit der Interamerikanischen Menschenrechtskommission. Trotz dieser langen Mängelliste meint die Bundesregierung, es seien "zahlreiche Maßnahmen zur Umsetzung des Beschlusses" ergriffen worden.

Zurückhaltend scheint die Bundesregierung vor allem bei Themen, aus denen finanzielle Forderungen erwachsen könnten. So heißt es in den Antworten, ein Bezug der Colonia Dignidad zur deutschen Rentenversicherung sei "nicht erkennbar". Dabei hatte neben anderen Medien die Frankfurter Allgemeine Zeitung berichtet, wie Sektenchef Schäfer "Rentenzahlungen aus Deutschland (...) für sich und seine Führungsclique" erhielt. Diese These deckt sich mit Aussagen zahlreicher Opfer, die auch nach der Rede von Außenminister Steinmeier im April im Auswärtigen Amt eingehend um soziale Zuwendungen für die vielen verarmten Opfer des Seltenregimes baten – bisher vergebens.

Nach Ansicht des Linken-Abgeordneten Jan Korte, der die Kleine Anfrage eingebracht hatte, ist die Bundesregierung noch weit von einer tatsächlichen Kehrtwende im Umgang mit den Verbrechen der Colonia Dignidad entfernt. Dies zeigten sowohl die Antwort der Bundesregierung als auch ein Skandal beim jüngsten Empfang von Bundespräsident Joachim Gauck in Chile. Dabei war Reinhard Zeitner, ein verurteilter Mittäter und berüchtigter Schläger des Regimes von Sekten-Chef Paul Schäfer, ebenso eingeladen wie Hans Schreiber, der ehemalige Chef der juristischen Abteilung der Colonia Dignidad. "Die Einladung von Zeitner und Schreiber ist eine logische Folge des niemals erfolgten konsequenten Bruchs mit der Colonia Dignidad und ihrer Nachfolgeorganisation Villa Baviera", so Korte, der weitere parlamentarische Initiativen zum Thema plant.

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