Kolumbien / EU

Die EU missachtet Unrecht in Kolumbien

Soziale Aktivisten kritisieren Freihandelspläne Brüssels mit Kolumbien

Martín Sandoval ist ein ehemaliger politischer Gefangener. Er ist Mitglied der Kommunistischen Partei Kolumbiens und Vorsitzender des Komitees für Menschenrechte im nördlichen Departement Arauca. Ramiro Orjuela ist Strafverteidiger von politischen Gefangenen. Mit den beiden sprach Harald Neuber.

?Herr Sandoval, wie viele politische Gefangene gibt es derzeit in Kolumbien?

Sandoval: Menschenrechtsorganisationen gehen davon aus, dass in meinem Land derzeit 7200 Menschen aus politischen Gründen inhaftiert sind. Wir haben Massenverhaftungen von bis zu 120 Personen dokumentiert. Diese besorgniserregende Entwicklung ist Teil der Politik der Demokratischen Sicherheit der Regierung von Präsident Alvaro Uribe. Derart versucht die Staatsführung seit Jahren gegen die Guerilla-Organisationen vorzugehen. Tatsächlich richtet sich die Kampagne gegen jegliche Opposition. Diese Politik bringt weder Demokratie noch Sicherheit.

?Sie sind derzeit auf Rundreise in Europa, um über ein geplantes Freihandelsabkommen zwischen der EU und Kolumbien aufzuklären. Gibt es einen Zusammenhang zur Menschenrechtslage?

Sandoval: Sehen Sie, das Problem ist, dass die Europäische Union das Thema nicht ernsthaft auf die Agenda setzt. Der Freihandelsvertrag soll, so ist in den Medien zu lesen, noch in diesem Jahr unterzeichnet werden. Zugleich findet in Kolumbien eine immense Repressionskampagne gegen soziale Aktivisten statt. Seit Beginn dieses Jahres wurden knapp 30 Kollegen aus den Gewerkschaften ermordet. Kolumbien befindet sich in einer schweren sozialen Krise, und die Europäische Union verschließt die Augen vor diesem Problem. Denn das würde zu Lasten guter Geschäfte gehen.

?Noch einmal zu den politischen Gefangenen. Herr Orjuela, Sie arbeiten als Strafverteidiger. Weshalb kann die Justiz nicht gegen diese Fälle vorgehen?

Orjuela: Sie müssen sich die Lage vor Augen führen. Kolumbien ist ein Land mit 20 000 Verschwundenen. Bis zu fünf Millionen Menschen sind im eigenen Land auf der Flucht, mehr gibt es nur im Sudan. Und es gibt die 7200 politischen Gefangenen. All das findet unter dem Vorwand des Kampfes gegen die Guerilla statt.

Ein Vorwand?

Orjuela: Wenn wir uns die Fälle ansehen, merken wir schnell, dass 80 bis 90 Prozent der politischen Gefangenen tatsächlich sozialen Organisationen angehören. Sie werden als Mitglieder der Guerilla angeklagt und verbringen bis zu elf Jahren in Haft, selbst wenn sich die Anklage danach als haltlos erweist. Es gibt keine Unschuldsvermutung, und das ist Teil der Strategie des Terrors. Angesichts dieser Bedrohung überlegt man sich in Kolumbien genau, ob man in der Gewerkschaft oder anderen sozialen Organisationen aktiv wird.

Können Sie als Anwalt frei arbeiten?

Orjuela: In den vergangenen zwei Jahrzehnten wurden über 400 meiner Kolleginnen und Kollegen ermordet. Diese Zahl ist wohl aussagekräftig genug.


Quelle: Neues Deutschland, 22. Oktober 2009