Venezuela / Politik

Die Agenda der Chavistas

Die lateinamerikanische Linke setzt zur Gegenoffensive an. Federführend ist Venezuela. Beobachtungen aus Caracas

In einem Gespräch mit der italienischen Tageszeitung il manifesto äußerte sich Álvaro Garcia Linera, Soziologe, führendes Mitglied der regierenden Bewegung zum Sozialismus (MAS) und Vizepräsident Boliviens, jüngst zu der Emanzipationsbewegung auf dem Kontinent:

"In dieser progressiven Welle, die ganz Lateinamerika erfasst hat, sind diejenigen Bewegungen und Regierungen am besten dran, die den Übergang zu einer gesellschaftlichen Veränderung entschlossen angehen. Schlechter schneiden hingegen jene ab, die sich auf zweifelhafte Kompromisse einlassen, weil das den Rechten Luft verschafft. Wir müssen daraus also den Schluss ziehen, dass die gesellschaftlichen Prozesse auf unserem Kontinent beschleunigt werden müssen. Die Menschen begreifen das sehr schnell, sie beteiligen sich daran."

Diese Einschätzung ist der Schlüssel für die gegenwärtigen Ereignisse auch in Venezuela.

Die Chavistas, die Anhänger von Präsident Hugo Chávez also, haben ihre eigene Agenda. Sie warten weder ab, was die Kräfte der Oligarchie als nächstes planen, noch lassen sie sich von diesen Kräften vor sich her treiben. Die Chavistas wissen, dass Konfrontationen auf längere Sicht unvermeidlich sind und versuchen, dabei immer einen Schritt voraus zu sein.

Im September werden die Wahlen für die Asamblea Nacional, die Nationalversammlung, stattfinden. Nach ihrem Boykott der letzten Wahlen wird diesmal die rechte Opposition wieder teilnehmen. Vor Ort weiß jeder, dass die Oligarchie alle Mittel einsetzen wird, wie schon bei den vorangegangenen Kampagnen. Dabei sind skurrile Proteste in den Prunkvierteln von Caracas, wenn sichtbar wohlhabende Bürger dramatisch "Freiheit" fordern und ihre "Unterdrückung" anklagen, noch das Harmloseste. Die jetzt inszenierten "Studentenproteste", zu denen die rechten Oppositionsparteien aufgerufen haben, sind als Auftakt zu einer von der Oligarchie verfolgten Strategie der Destabilisierung und Eskalation zu werten. Sie suchen eher den Bürgerkrieg als eine weitere Konsolidierung des bolivarischen Prozesses zuzulassen.

Auch der Kampf gegen die Spekulanten im Lebensmittelsektor ist eröffnet worden.

Das ist erstens Programm der Regierung und zweitens eine unaufschiebbare Vorbeugung, damit die Oligarchie nicht während des Wahlkampfes durch gezielte Verknappung und Preiserhöhungen von Lebensmitteln, früher eine beliebte Taktik, Stimmungen machen kann.

Die Kampagne gegen die Spekulation ist von Anfang an verbunden mit einem Aufruf an die Bevölkerung, sich aktiv zu beteiligen und Geschäfte, die überhöhte Preise verlangen, sofort zu melden. Es gibt dazu eigens eingerichtete Telefonnummern und an öffentlichen Plätzen, wie dem Plaza Bolívar im historischen Zentrum von Caracas, eingerichtete Stände sozialer Aktivisten, die Meldungen aufnehmen. Darauf folgen Maßnahmen der Behörde, eine Untersuchung und die Schließung für 24 Stunden. Man kann jetzt selbst schon Kaufhäuser in den Straßen finden, an deren geschlossenen Eingängen Plakate mit der Begründung der Maßnahme hängen. Werden die überhöhten Preise nicht in dieser Frist zurückgenommen oder kommt es erneut dazu, kann die Regierung das Geschäft enteignen. Das ist inzwischen mit der kolumbianischen Supermarktkette "Exito" auch schon geschehen.

Der in Europa medial viel beachtete Konflikt mit den rechten Fernsehsendern dreht sich darum, dass diesen nicht der Weg zum schleichenden Staatsstreich frei gemacht wird. Die Sender müssen sich gemäß den Gesetzen und der Verfassung verhalten. Dieser Konflikt ist unausweichlich wegen der immer noch unverhältnismäßig großen Macht der Medien der Oligarchie in Venezuela. Diese Medien waren beim Staatstreich 2002 die Hauptwaffe der Reaktion und sozusagen eine Macht im rechtsfreien Raum.

Wenn die Regierung diese außerinstitutionelle Macht weiter zulässt, lässt sie damit den nächsten Staatsstreich zu.

Angesichts dieser Erfordernisse sind die zu erwartenden Kommentare und Proteste der "besorgten" Europäer und der USA zu Recht unwesentlich. RCTV, der aktuelle Fall, mit aktiver Rolle während des Putsches gegen Chávez 2002, ist ein venezolanischer Sender, der inzwischen seinen Sitz nach Miami verlegt hat und damit begründen will, dass er sich nicht an die venezolanische Verfassung und die Gesetze halten muss.

Schon der Tag der Jahresbilanz von Präsident Chávez mit seiner Rede vor der Asamblea Nacional ist mit einer Massenmobilisierung der chavistischen Basis in den Straßen verbunden worden. Dies ist Ausdruck einer Politik, die die parlamentarische Rechenschaft direkt dem Volk gegenüber abgeben und sich nicht abschotten will.

Dies zeigt sich schon im Konzept der sonntäglichen TV-Sendungen "Álo Presidente". In Europa wird diese Sendung als Selbstdarstellung von Chávez denunziert und könnte damit nicht weiter weg von der Realität sein. Tatsächlich ist in Europa diese Art der regelmäßigen Rechtfertigung der Regierung vor dem Volk völlig unbekannt. Die Sendung wird immer vor Ort in einem konkreten Projekt aufgezeichnet, das gerade einen Brennpunkt des Prozesses darstellt. Oft fordern die Projekte Chávez erst auf, die nächste Sendung bei ihnen zu machen, um öffentliche Unterstützung zu gewinnen und ihre Probleme darstellen zu können. Dort ist dann Präsident Chávez, die meisten Minister müssen anwesend sein und Aktive in dem Projekt treten auf. Inhaltlich geht es darum, Transparenz der aktuellen Maßnahmen zu erreichen und die Eigeninitiative vor Ort zu fördern. Eingeflochten wird auch immer Informierung über die größeren Zusammenhänge bis hin zur internationalen Situation. Zuletzt spielte etwa Bolivien und die Feier zur Einführung von Morales in seine zweite Amtszeit eine Rolle, ebenso Haiti und die US-Politik.

Eine Woche nach der Rede vor der Asamblea Nacional kam dann die große Mobilisierung in Caracas zum 23. Januar, dem Jahrestag des Sturzes von Diktator Pérez Jimenez im Jahr 1958. Von drei Sammelpunkten in der Stadt, die in den Barrios mit der wesentlichen Basis der Chavisten starteten, ging ein Sternmarsch zur Plaza O'Leary, gleich neben dem Präsidentenpalast Miraflores. Auf dem Platz hielt Hugo Chávez eine Ansprache auf der Bühne direkt vor den versammelten Massen.

Seine Rede war auf Mobilisierung ausgerichtet.

  • Auftakt zum Wahlkampf für die Wahlen im September. Die Rede ist von der "Campaña admirable", der bewunderswerten Kampagne;
  • Begründung der jüngsten Enteignungen;
  • Forcierung des Kampfs gegen die Lebensmittelspekulanten;
  • Verkündung einer antiimperialistischen bolivarischen Gegenoffensive, die laut Hugo Chávez am Tag zuvor mit der Feier in La Paz begonnen habe, und die eine Antwort entwickeln muss auf die Militarisierung der Region durch die US-Politik.