Wege aus der Krise

Ecuadors Präsident Rafael Correa zur Wirtschaftspolitik: Aufschwung und sozialer Ausgleich statt Rezession und Sparprogramme

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Rafael Correa während seiner Rede in der TU-Berlin
Rafael Correa, Präsident von Ecuador, vor 1.200 Gästen in der TU Berlin

Aus Ecuador bringe ich brüderliche Grüße mit von 15,5 Mio. Frauen und Männern und all unsere Zuneigung für Deutschland, für sein Volk, welches in Europa u.a. einen bedeutenden multikulturellen Aspekt einbringt – dies ist besonders auffällig im neuen Berlin, wo über 130 Nationalitäten in Frieden zusammenleben. Herzliche Grüße an alle Studierenden der Technischen Universität Berlin, an ihre Dozenten, Mitarbeiter und ihre hohen akademischen Autoritäten.

Welch ein Stolz im Geburtsland von Einstein, Brecht, Thomas Mann, Hermann Hesse zu sein, in der Heimat von Hegel, Marx, Schiller, Goethe, Nietzsche, Heine, Bach, Beethoven... Heimatland unzähliger Künstler, Philosophen, Erfinder und Wissenschaftler, in einem Land, das seit der Renaissance einen Großteil der Kreativität und des Talents von Europa und der Welt in sich konzentrierte. Die Hochachtung für Deutschland und seine Menschen hat in Ecuador historische Wurzeln. Wir blicken in diesem Jahr auf 125 Jahre intensiv geführte bilaterale Beziehungen zurück. Die Liste der Berühmtheiten der letzten zwei Jahrhunderte ist lang, angeführt von dem gefeierten Naturforscher Alexander von Humboldt, der mit so vielen Forschungsprojekten auf unserem Kontinent verbunden ist.

Liebe Freundinnen, liebe Freunde, lassen Sie mich zuerst ein wenig über mein Land erzählen. Ecuador ist das Land mit der dichtesten Landschafts- und Artenvielfalt weltweit. In Ecuador haben wir die "vier Welten": die Meeresküste, das Hochland der Anden, den östlichen Regenwald und die wunderbaren Galapagosinseln, unsere Verzauberten Inseln (Islas Encantadas), Naturgut der Menschheit. Ecuador ist auf dem ersten Platz weltweit, was die Zahl der Wirbeltiere angeht: 9,2 Arten pro 1.000 Quadratkilometer. Auf dem dritten Platz bei Amphibien mit 441 Arten, die einen Anteil von zehn Prozent der Weltpopulation ausmachen. Und auf dem vierten Platz bei den Vögeln mit 1.626 Arten, die 18 Prozent aller Vogelarten der Welt darstellen. Von diesen Vogelarten sind 37 endemisch, das heißt, dass man diese nur in Ecuador vorfindet. Des Weiteren ist Ecuador auf dem fünften Platz bei der Schmetterlingsvielfalt mit 69 Arten, von denen drei endemisch sind, und auf dem sechsten in der terrestrischen Artenvielfalt. Wenn man die terrestrische und marine Biodiversität zusammenzählt, sind wir sogar auf dem ersten Platz. Wir sind mit 17.000 Arten an siebenter Stelle bei der Vielfalt bezüglich höherer Pflanzen. Schätzungsweise mehr als 4.000 davon sind endemisch. Von all den Orchideenarten in der Welt findet man 18 Prozent in Ecuador. Wir sind an achter Stelle, was die Reptilienvielfalt mit 396 Arten angeht.

All dies auf einem Gebiet von nur 253.000 Quadratkilometern, wo alle möglichen Klimazonen und alle vorstellbaren Mikroklimabedingungen vorkommen. An nur einem Tag könnte ein Tourist, der uns besuchen kommt, am Strand zum Frühstück frisch gefangenen Fisch und Meeresfrüchte verspeisen, zu Mittag essen an den Hängen des Cayambe, einem stolzen, ewig schneebedeckten Berg in den Anden auf der Äquatorlinie, und mitten im Regenwald zu Abend essen. Am nächsten Tag, nach weniger als zwei Stunden Flugzeit, wird unser erstaunter Tourist schon auf den Galapagosinseln sein, eines der sieben Naturwunder unseres Planeten.

Ecuador liebt das Leben. Wir Ecuadorianerinnen und Ecuadorianer haben bekundet, dass die Natur Rechte hat und dies weltweit als erste in unserer Verfassung verankert. 20 Prozent unseres Territoriums befindet sich in 44 Reservaten und Naturparks unter Schutz, einschließlich des Yasuní-Parks, Regenwaldjuwel des Pleistozän und globales Biosphärenreservat, wo es auf einem Quadratkilometer mehr Baumvielfalt gibt als in ganz Nordamerika.
Die bunte Palette unserer Flora und Fauna wird ergänzt und weiter bereichert durch die Vielfalt unserer menschlichen Kulturen; wir haben zusätzlich zur Mehrheit der Mestizen 14 indigene Nationalitäten mit ihren ursprünglichen Sprachen, darunter zwei nicht kontaktierte Völker, die es vorgezogen haben in freiwilliger Isolation im Herzen des Urwaldes zu leben. Unsere neue Verfassung definiert Ecuador als einheitlichen Staat, aber auch als multinational und multikulturell. Zweifelsohne ist Ecuador durch seine Vielfalt und geographische Lage das Ökozentrum der Welt. Nur bei einem Besuch Ecuadors können Sie in sieben Tagen ganz Lateinamerika kennenlernen: seine Strände, seine Berge, seine Regenwälder, seine Inseln und, am wichtigsten, seine Menschen.

Errungenschaften

Und dieses wunderbare Land verändert sich gerade tiefgreifend zum Guten, im Ökonomischen, Politischen und im Sozialen. Aus diesem Grund bestätigte der Staatssekretär des Bundesministers für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland, Herr Hans-Jürgen Beerfeltz, während seines jüngsten Besuches in unserem Land vor kaum zwei Monaten, dass Ecuador sich in den "lateinamerikanischen Jaguar" verwandele.

Laut dem Indikator der Vereinten Nationen für menschliche Entwicklung von 2012 ist Ecuador im Zeitraum von 2007-2012 – dieser Zeitraum fällt mit der Regierungsdauer unserer Regierung zusammen – unter 186 Ländern eins von den vier Ländern, die am schnellsten die Rangfolge in der Bewertung der menschlichen Entwicklung aufgestiegen sind. Nur Tansania, das 15 Stufen aufstieg, Weißrussland, das zwölf Stufen aufstieg und Hongkong, das zehn Stufen aufstieg, haben Ecuador hierbei übertroffen.

So ist unser Land vom mittleren menschlichen Entwicklungsgrad auf den hohen menschlichen Entwicklingsgrad übergegangen. Ziel der Politik, der Ökonomie und praktisch aller unserer Aktivitäten ist das menschliche Glück. Ecuador befindet sich auf Platz 23 von 151 Ländern des Happy Planet Index 2012 der New Economic Foundation. Dieser Index misst die Lebenserwartung, den ökologischen Fußabdruck, schließt aber auch den wichtigen, subjektiven Aspekt des Glückes mit ein. Unter den 23 glücklichsten Ländern sind 16 lateinamerikanische Länder. Das kann eine gute und gleichzeitg schlechte Nachricht sein, denn in der Region herrscht allgemein noch eine derartige Ungleichheit und Armut, dass das Glücksgefühl auch auf ein mangelndes Problembewusstsein hindeuten könnte.

Bezüglich der ökonomischen Erfolge ist Ecuador eins von den fünf Ländern mit dem größten Wirtschaftswachstum in der Region und das Land, das sich am schnellsten von der Krise des Jahres 2009 erholt hat. In Bezug auf die Armut – die für uns der größte Angriff auf die Rechte und die Freiheit der Menschen darstellt – ist es uns im Zeitraum zwischen 2006 und 2012 gelungen, dass eine Million Ecuadorianer nicht mehr in Armut leben. Die Armut ist von 37,6 auf 27,3 Prozent, die extreme Armut von 16,9 auf 11,2 Prozent gesunken. Die Armut zu beseitigen sollte weltweit der moralische Imperativ sein und so ist es auch in Ecuador.

Nach Angaben der Wirtschaftskommission für Lateinamerika und die Karibik (CEPAL) sind wir das Land in Lateinamerika, das im Zeitraum von 2007 bis 2011 die meisten Ungleichheiten beseitigt hat. Sie als Nation spüren diese Unterschiede vielleicht nicht, aber in Lateinamerika ähneln diese unsinnigen sozialen und wirtschaftlichen Abstände dem Joch der Sklaverei im 19. Jahrhundert, denn diese riesigen Unterschiede bei den Einkommen, den Vermögen und beim Konsum verhindern, dass die große Mehrheit der Bewohner unserer Region ein würdiges Leben führen kann. Deshalb sind wir als Nation stolz darauf, in Ecuador die Einkommenskonzentration, gemessen durch den Gini-Koeffizienten, um acht Punkte reduziert zu haben: das ist viermal mehr als der Durchschnitt in Lateinamerika (0,51 bis 0,43).

Ecuador ist auch das Land, das mit 4,1 Prozent die niedrigste Arbeitslosenrate hat; dies schlägt die orthodoxe Tendenz in der Ökonomie vernichtend… und Ecuador verfügt über soziale Errungenschaften, die uns mit Stolz erfüllen. So sind wir das Land in Lateinamerika, in dem die meisten Menschen aus armen Schichten an der Universität studieren – dank der in der neuen Verfassung verankerten kostenlosen Hochschulbildung – und wir sind im regionalen und Weltmaßstab führend bei der Integration von Menschen mit Behinderung. Wir haben bei dieser Personengruppe praktisch Vollbeschäftigung erreicht mit etwa 40.000 Personen mit Behinderung im Arbeitsleben und 6.000 Familien mit passendem Wohnraum für Familienangehörige mit Behinderung.

Als wir 2007 die Regierung übernommen haben, nahmen wir uns eine Strategie vor, um den Druck der Verschuldung auf den Staatshaushalt und die öffentlichen Finanzen zu lindern und die dringendsten Bedürfnisse der Bevölkerung mit frischen Geldmitteln zu befriedigen. Wir gingen mit Entschiedenheit und Stärke die Schaffung einer Kommission zur Überprüfung der öffentlichen Schulden an. Die Ergebnisse dieser wertvollen Arbeit sind in einem Bericht zusammengefasst, der um die Welt ging: der 2008 vorgelegte Abschlussbericht der "Kommission für die Überprüfung der öffentlichen Schulden" (Comisión para la Auditoria Integral del Crédito Público).

Auf der Grundlage dieses Berichtes und durch eine sehr intelligente und technisch strenge Handhabung konnte Ecuador acht Milliarden US-Dollar beim Schuldendienst einsparen. Um eine Vorstellung vom Umfang zu haben, muss man wissen, dass diese Summe den gesamten öffentlichen Investitionen der ecuadorianischen Regierung in zwei Jahren entspricht (Infrastruktur, Ausstattung von Einrichtungen, Technologie). Bei den Zinsen wurden jährlich mehr als 420 Millionen US-Dollar eingespart. Im Ergebnisdieses erfolgreichen Rückkaufs des Auslandsschuldendienstes verringerte sich die Auslandsschuld von 24 Prozent der Staatsausgaben im Jahr 2006 auf 5,5 Prozent im Jahr 2012. Zusätzlich zu unserer Auslandsschuld haben wir auch die Erdölverträge neu ausgehandelt und wir haben die Steuereinnahmen mehr als verdoppelt, da wir dabei keine Steuerflucht mehr tolerieren. Das hat es uns erlaubt, die öffentliche Investition zum Hauptinstrument der Entwicklung des Landes zu machen. Ecuador hat heute das höchste Niveau an öffentlichen Investitionen in Lateinamerika erreicht. 2013 werden wir mit 13,5 Prozent des BIP einen historischen Stand erreichen.

Trotz dieser größten öffentlichen Investition in unserer jüngeren Geschichte beträgt die ecuadorianische Auslandsverschuldung gerade einmal 12,6 Prozent des BIP. Ein Anteil, der unter dem der entwickelten Ökonomien liegt. Die öffentlichen Investitionen haben auf diese Weise große Veränderungen herbeigeführt, die auch die Ausführung privater Investitionen in Ecuador verbessert haben. Die Investitionen in Straßen, Häfen, Flughäfen, Telekommunikation, Energieerzeugung, effiziente Justiz, in eine integrale Sicherheit durch ein umfassendes Sicherheitskonzept, dass Verkehrs- und Personensicherheit ebenso einschließt wie Prävention und Schutz vor Umweltkatastrophen, in den Überschwemmungsschutz und in die produktive Entwicklung haben eindeutig die systemische Wettbewerbsfähigkeit verbessert.

Die Neuverhandlung der Auslandsschulden, die Erdölverträge und das Anwachsen der Steuereinnahmen haben uns ebenfalls ermöglicht, wichtige Ressourcen für die Bezahlung der wichtigsten Schuld, der sozialen Schuld, freizugeben. Während 2004 für den sozialen Bereich 4,3 Prozent des BIP eingesetzt wurden, waren es 2012 fast elf Prozent. Das bedeutet in absoluten Zahlen, dass heute 5,1-mal mehr in Bildung investiert wird als 2004, im Gesundheitswesen ist es 4,5-mal mehr.

Die logische Konsequenz dieses Prozesses, bei dem zum ersten Mal der Mensch vor dem Kapital kommt, ist die politische Stabilität des Landes. Dank dieses Prozesses haben wir eine Epoche schrecklicher juristischer und politischer Ungesetzlichkeit überwunden, denn von 1996 bis 2006 konnte kein Präsident die Amtszeit beenden, für die er gewählt wurde. Wir hatten sieben Präsidenten in zehn Jahren. Das ist etwas, das jedweden Bürger in der Welt überrascht. Die gegenwärtige Regierung hat neun aufeinanderfolgende Wahlen gewonnen, darunter zwei Wiederwahlen bereits im ersten Wahlgang und drei Volksbefragungen, ein Beispiel direkter Demokratie. Wir erhalten die größte gesellschaftliche Zustimmung seit der Rückkehr zur Demokratie 1979. Bei den letzten Präsidentschafts- und Parlamentswahlen – am 17. Februar dieses Jahres – hat das ecuadorianische Volk mit mehr als 57 Prozent der Stimmen sein Vertrauen in uns bestätigt. Das sind fast 35 Prozentpunkte Differenz zur zweitstärksten politischen Kraft und das bedeutet etwa drei Millionen Stimmen Vorsprung. Wir gewannen in 33 von 34 Wahlkreisen und haben jetzt 100 Abgeordnete von 137, also 73 Prozent der Parlamentarier mit Repräsentanten aus jedem Wahlkreis. Das heißt, dass es sich um ein wirklich nationales politisches Projekt handelt mit einer in der ecuadorianischen Geschichte nie da gewesenen demokratischen Legitimität.

Wir möchten in Richtung einer anderen Wirtschaft voranschreiten, in der uns Wissenschaft, Technologie, Innovationen und Sachverstand den Übergang erlauben von einer Wirtschaft nicht erneuerbarer Ressourcen, d.h. der Produktion und dem Export von Bodenschätzen, zu einer Wirtschaft der unbegrenzten Ressourcen auf der Grundlage des menschlichen Wissens und seiner potenziellen Fähigkeiten.

Wir wissen, dass wir, um die nächste wirtschaftliche Stufe zu erreichen, die Mängel überwinden müssen, die wir noch bei der Fähigkeit haben, Wissen zu schaffen und anzuwenden, um so Reichtum zu schaffen und das Lebensniveau aller unserer Einwohner zu heben. Deshalb hat sich das Land entschieden, einen großen Sprung zu machen und seine Ressourcen auf die strukturelle Stärkung der menschlichen Fähigkeiten zur Schaffung von Kenntnissen, Wissenschaft und Technologie zu richten. Das ist eine weitere der vor uns stehenden großen Herausforderungen.

Auf dieser Linie liegt das wichtigste Projekt in der Geschichte unseres Landes: Yachay. Es handelt sich um den ersten Komplex für wissenschaftliche Forschung mit Zentrum für technologische Entwicklung Ecuadors und Lateinamerikas. Yachay wird eines der wichtigsten Zentren der angewandten Forschung in unserer Region sein.

Zusätzlich haben wir seit dem Beginn der Regierung der Bürgerrevolution unsere Studenten zur Ausbildung an die besten Universitäten der Welt geschickt und hierfür Stipendien vergeben und in die Finanzierung von Forschungsaktivitäten investiert. Unsere Berufung und Aufgabe ist die integrale Ausbildung unserer Bürger. Dafür verfügen wir auch über das Programm Prometeo, das sich an Forscher aus dem Ausland und Ecuadorianer, die im Ausland leben, wendet, damit sie zur Erarbeitung und Weitergabe wissenschaftlicher Kenntnisse in Ecuador beitragen.

Ein anderer Mechanismus beim Übergang zu einer anderen Wirtschaft und auch einer anderen Gesellschaft ist der global verantwortungsvolle Umgang mit unseren nicht erneuerbaren Ressourcen. Die Art und Weise der kapitalistischen Akkumulation hat eine beispiellose Umweltkrise hervorgerufen und wenn wir, die Regierungen der Welt, es jetzt nicht schaffen, sie gemeinsam zu verändern, werden wir mit dem unmittelbar drohenden Verfall der menschlichen Zivilisation und der Zerstörung der Ressourcen des Planeten konfrontiert sein.

Rechte der Natur

Der von Ecuador der Welt unterbreitete Vorschlag – bekannt als Yasuní-ITT – sieht zum ersten Mal vor, die Nettoemission von Kohlenstoff in die Atmosphäre zu verhindern, indem unsere wichtigsten Erdölfelder nicht ausgebeutet werden. Sie liegen im Nationalpark Yasuní (einem wunderschönen Naturreservat im tropischen Regenwald der ecuadorianischen Amazonas-Region). Ziel ist es, seine Biodiversität zu erhalten und die Völker zu schützen, die dort in selbst gewählter Isolierung leben; aber vor allem besteht das Ziel im Kampf gegen den weltweiten Klimawandel. Mit der Umsetzung dieses Projektes könnten wir den Ausstoß von Treibhausgasen verhindern, die bei der Ausbeutung von etwa 846 Millionen Barrel Erdöl anfallen, wenn diese zu Treibstoff verarbeitet und in verschiedenen Gebieten des Planeten genutzt werden.

Ich habe versucht, die strukturellen Veränderungen zusammenzufassen, die in der ecuadorianischen Gesellschaft stattgefunden haben, und Ihnen zu zeigen, wie wir durch die Veränderung der Ideen außergewöhnliche Erfolge erreicht haben. Wir haben genau das Gegenteil von dem gemacht, was man immer bei der Umsetzung der durch den Internationalen Währungsfonds (IWF) auferlegten Normen tat.

Krisenexperten

Es geht uns heute sehr gut, aber wir sind auch Krisenexperten, denn wir haben sie alle durchgemacht. Was Europa gerade erlebt, kennt Lateinamerika zur Genüge. Es gibt nichts Neues unter der Sonne, es ist wie ein Déjà-vu-Erlebnis. Wir haben eine lange "Schuldenkrise” durchlebt. Sie sollten nicht die gleichen Fehler begehen, die wir gemacht haben.

In den 1970er Jahren und besonders ab 1976 begann Ecuador – und generell die lateinamerikanischen Länder – eine aggressive Auslandsverschuldung. Die "offizielle Geschichtsschreibung" sagt, dass die ganze Verschuldung nur das Ergebnis unverantwortlicher und zerrütteter Regierungen war, die versuchten, ihre populistische Politik zu finanzieren, und dass die Ungleichgewichte durch das Modell der Importsubstituierung entstanden. In Wirklichkeit war die aggressive Verschuldung eine eigene Strategie, die von den üblichen internationalen Organismen abgesegnet und vorangetrieben wurde, und die in der Theorie eine Entwicklung durch Finanzierung mit hochrentablen Investitionen erreichen wollte, die in unterentwickelten Ländern überreichlich vorhanden seien und mit deren Rendite die eingegangenen Schulden ohne Weiteres zu bezahlen seien. In der Praxis nützte diese Strategie nur den Bedürfnissen des internationalen Groß- und Finanzkapitals, speziell der Notwendigkeit, die überschüssigen liquiden Mittel einzusetzen, die in der Ersten Welt durch die sogenannten Petrodollar existierten - enorme Geldmengen, welche die arabischen Erdöl produzierenden Länder in den Banken der entwickelten Länder besaßen. Die Petrodollar entstanden durch die hohen Erdölpreise ab 1974 infolge des Embargos der arabischen Länder gegenüber den Nationen, die Israel im Yom-Kipur-Krieg (Oktober 1973) unterstützten sowie durch die Konsolidierung der Organisation Erdölproduzierender Staaten (OPEC). Aus diesem Grund stiegen die in den transnationalen Banken angelegten Gelder von 82 Milliarden Dollar Anfang 1975 auf 440 Mrd. im Jahr 1980 an.

Angesichts der Notwendigkeit, so große Summen einzusetzen, betrachtete man zum ersten Mal die sogenannte Dritte Welt als Kreditsubjekt. So begann man Mitte der zweiten Hälfte der 1970er Jahre in Lateinamerika lange Schlangen internationaler Bankern zu beobachten, die jede Art von Krediten anboten, einschließlich solcher für laufende Ausgaben sowie für den Kauf von Waffen durch Militärdiktaturen, die zu dieser Zeit in vielen Ländern Lateinamerikas regierten. Mehr noch, diese bemühten Banker, die vorher nicht einmal als Touristen in die Region kamen, schleppten immer wieder volle Koffer mit Schmiergeld an, damit die korrupten Funktionäre Darlehen für jeden Unsinn akzeptierten, während die internationalen Organisationen und Entwicklungsagenturen immer wieder die unheilvolle Idee verkauften, dass es sinnvoll sei, sich zu verschulden.

Diese sogenannte "aggressive Verschuldung" dauerte bis zum Freitag, den 13. August 1982, als sich Mexiko wegen der durch eine schlechte makroökonomische Politik angehäuften unnachhaltigen Ungleichgewichte nicht mehr in der Lage sah, seine Auslandsschulden weiter zu bedienen. Als Folge der Insolvenz Mexikos litt ganz Lateinamerika unter der Beendigung der Vergabe von internationalen Krediten, zudem an einer schonungslosen Erhöhung der Schuldenzinsen. Dies war das Ergebnis des erhöhten Risikos der Kreditvergabe in der Region, aber auch Folge der enormen Erhöhung der Zinsen der Federal Reserve (Zentralbank der USA) seit 1981, die dadurch den Druck der Inflation, Ergebnis der Politik Ronald Reagans, eindämmen wollte. So erreichten die Kredite, die zu Beginn mit einem zwischen vier und sechs Prozent schwankenden Zinssatz vergeben waren, Zinssätze von bis zu 20 Prozent.

Um die Schwere der Krise am Beispiel von Ecuador zu illustrieren, ein Land das außerdem unter dem Absturz des Ölpreises litt – seit 1972 ein erdölexportierendes Land – sank in der Zeit von 1981 bis 1990 das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Einwohner um 5,7 Prozent und damit auf das Niveau von Mitte der 1970er Jahre. Bis zum Ende der 1980er Jahre sank der Investitionskoeffizient bezüglich des BIP um 14 Prozent, von denen lediglich drei Prozent öffentliche Investitionen waren.

Schließlich verursachten der Verfall der Ölpreise, die Erhöhung der internationalen Zinssätze und die Einstellung der Vergabe von internationalen Krediten nicht nur die Beseitigung der Quellen für das Wachstum der Wirtschaft Ecuadors, sondern auch einen gigantischen Transfer von Ressourcen ins Ausland als Ergebnis der Bedienung der Auslandsschulden und den Verfall der Tauschwerte im internationalen Handel (terms of trade). Abgesehen davon, dass allein durch den Schuldendienst in dieser Zeit zwei Milliarden Dollar ins Ausland gingen und dass die Versorgung mit Frischgeld durch internationale Banken nicht möglich war, verdreifachten sich die Auslandsschulden annähernd von 4,4 Milliarden US-Dollar im Jahr 1981 auf 12,05 Milliarden US-Dollar im Jahr 1990. Verursacht wurde dies vor allem durch die Refinanzierung und Kapitalisierung der Verzugszinsen. Es gilt hervorzuheben, dass dies ein regionales Phänomen darstellte und dessen ungeachtet führte Lateinamerika in den achtziger Jahren einen Nettotransfer von 238 Milliarden Dollar an seine Gläubiger durch. Die Auslandsschulden der Region stiegen von 228 Milliarden Dollar im Jahr 1980 auf 442 Milliarden Dollar im Jahr 1990. Mark Twain sagte einmal, dass ein Banker ein Typ sei, der dir einen Regenschirm leiht, wenn die Sonne scheint, und ihn dir wegnimmt, wenn es zu regnen beginnt…

Trotz der offensichtlich geteilten Verantwortung – ich erinnere daran, dass Kredite für die Bewaffnung von Militärdiktaturen ohne jegliche demokratische Legitimierung vergeben wurden – reduzierten die Länder des Zentrums der Weltwirtschaft, die internationalen Bürokratien wie IWF, Weltbank, Internationale Entwicklungsbank und selbstverständlich die internationalen Banken, das Problem auf die "Überschuldung" der Länder (overborrowing), ohne jemals ihre Verantwortung anzuerkennen bezüglich der offenkundig entsprechend übermäßigen Kreditvergabe, das overlending.

Dutzende Anpassungsprogramme und Absichtserklärungen wurden vorgebracht, vor allem durch den IWF angeordnet, aber auch von den lateinamerikanischen Regierungen fügsam angenommen. Dies bedeutete Haushaltsdisziplin, Erhöhung der öffentlichen Gebühren, Privatisierungen und so weiter. Wie jetzt in Zypern. Die letzte Absichtserklärung Ecuadors und die Bezahlung der Auslandsschulden suchte nicht den möglichst schnellen Ausweg aus der Krise, die Rückkehr zum Wachstum und die Schaffung neuer Arbeitsplätze, sondern garantierte nur den Schuldendienst. Die Rettungsprogramme des IWF zielten darauf ab, die Schulden aufrechtzuhalten. Einerseits gaben sie den verschuldeten Ländern Millionen von Dollar, die das jeweilige Land aufgrund der Strukturanpassungsmaßnahmen nicht zum Wohlergehen der Menschen und der Wirtschaft nutzen konnten, sondern nur für die Bezahlung der privaten Schulden. Schließlich blieb das Land bei den internationalen Bürokratien verschuldet, aber die Schulden hatten sie bei den privaten Banken bezahlt; ganz so wie Joseph Stiglitz es einmal konstatierte.

Faktoren der Krise in der Europäischen Union, die sie mit der ecuadorianischen Krise gemein hat

Heute ereignet sich praktisch das gleiche in Europa, es werden die gleichen Fehler begangen: Es werden keine "Strategien" der aggressiven Verschuldung propagiert, wohl aber eine angebliche ökonomische Wissenschaft, die den aktuellen Machthabern Argumente liefert für die Fähigkeit und Effizienz der Märkte zur Eigenregulierung. Um ein Beispiel zu nennen: Auf diese Weise liehen die europäischen Banken Griechenland Geld, "ohne zu merken", dass das Staatsdefizit 2,5-mal höher war als das erklärte Staatsdefizit (sechs Prozent bzw. 15,4 Prozent). Erneut gibt es ein Problem des overborrowing, ohne dass das entsprechende overlending berücksichtigt würde, um so als Konsequenz die entsprechende Verantwortung nicht zu übernehmen.

Von 2010 bis Dezember 2012 weisen die Eurozone und die 27 Staaten der Europäischen Union einen Rückgang in ihrer Wirtschaftskraft auf. In diesem Zeitraum stieg die Arbeitslosigkeit in alarmierender Weise. Vier Millionen Menschen haben ihren Arbeitsplatz verloren und mehr als sechs Millionen Jugendliche können in ihren eigenen Ländern keinen Arbeitsplatz finden.

Während die Krise mit aller Kraft die Staaten erreicht, wird immer weiter nach den orthodoxen Rezepten verfahren. Im Zeitraum 2009 bis 2012 haben Portugal, Irland, Italien, Griechenland und Spanien ihre Staatsausgaben um 5,2 Prozent reduziert. Dadurch wurden in gravierender Weise die Bereiche Bildung und Gesundheitswesen in Mitleidenschaft gezogen. Um nur ein Beispiel zu nennen: In den öffentlichen Krankenhäuser in Spanien muss das Tafelwasser für die Kranken von den Familienangehörigen bezahlt werden.

Diese Angaben scheinen auf einen relevanten Mangel an Ressourcen hinzuweisen. Sie verlieren jedoch ihren Sinn, wenn sie mit den Maßnahmen verglichen werden, mit denen die Besitzer und Manager der Banken gerettet werden. Bis zum heutigen Tag wurden 570 Milliarden Euro für die "Rettung" des Finanzsektors bereitgestellt. In Portugal, Griechenland und Irland übersteigen diese "Rettungsmaßnahmen" den Gesamtbetrag der Löhne und Gehälter von allen Beschäftigten in diesen Staaten.

Im Kontext dieser Analyse möchte ich eine besondere Bemerkung zum Fall Zyperns machen, weil dieses Land sehr schwerwiegend von der Krise betroffen ist. Wie immer beginnt das Problem mit einem nicht regulierten Finanzsektor. Die großen zypriotischen Banken, also die Bank of Cyprus und die Laiki Bank, vergaben umfangreiche Kredite insbesondere an Griechenland. Als diese Blase 2012 platzte, war durch das schlechte Finanzmanagement die gesamte Volkswirtschaft betroffen mit allen Konsequenzen für die Menschen. Im März 2013 gewährte die sogenannte Troika, bestehend aus dem Internationalen Währungsfonds (IWF), der Europäischen Zentralbank (EZB) und der Europäischen Kommission, ein Rettungspaket von 10 Milliarden Euro, das gekoppelt war an ein Wirtschaftsprogramm, das traurigerweise mit den Absichtserklärungen übereinstimmt, die der IWF über zwei Jahrzehnte lang den Ländern unseres Lateinamerika aufgezwungen hat.

Die politischen Maßnahmen, die diese Institutionen mit Zypern vereinbart haben, stellen ein Déjà-vu-Erlebnis dar: Abbau im öffentlichen Sektor, Verringerung der Rentenansprüche für Beschäftigte im staatlichen Sektor, Privatisierung der strategischen staatlichen Unternehmen, Maßnahmen der Reduzierung staatlicher Ausgaben bis 2018, Verringerung der sozialen Ausgaben, Verabschiedung von Gesetzen für den Umgang mit den Finanzkrisen, Einrichtung eines "Fonds für finanzielle Stabilisierung" mit dem Ziel, die Probleme der Banken und ihrer Besitzer zu lösen und weiterhin das Einfrieren von Bankeinlagen bis zu 100.000 Euro sowie das Einziehen und Überschreiben höherer Beträge.

Niemand bezweifelt, dass Anpassungsmaßnahmen erfolgen müssen und keiner bezweifelt, dass schwerwiegende Grundfehler korrigiert werden müssen, wenn das Produktivitätsgefälle nicht im Einklang steht mit den Differenzen von Gehältern und Löhnen. Aber es bezweifelt ebenso niemand, dass im Wesentlichen die Zahlung der Schulden für Privatbanken angestrebt wird – und nicht das schnellstmögliche Überwinden der Krise mit den geringsten Kosten für die Bürger. Was nun die internen Finanzprobleme angeht, so gestatten sie mir, das Beispiel Spanien kurz anzuführen: Überschuss an Liquidität, Immobilienblase, Hypotheken und Zwangsräumungen von Wohnungen, die schlechteste aller erdenklichen Welten, eine ruinierte Wirtschaft...

Wir sind, ich wiederhole es, Krisenexperten. Ecuador hat 1999 eine ähnliche Erfahrung gemacht, als es eine der schlimmsten wirtschaftlichen Krisen seiner Geschichte erlebte, als sich das BIP pro Einwohner um 7,6 Prozent reduzierte. Die wichtigste Ursache dafür war die finanzielle Liberalisierung auf dem Höhepunkt des neoliberalen Fundamentalismus in der Amtszeit des Architekten Sixto Durán Ballén durch die Verabschiedung des Allgemeinen Gesetzes über die Institutionen des Finanzsystems durch den Nationalkongress am 25. Mai 1994. Die Kontrolle der Banken wurde erheblich reduziert, was zu einer sehr schlechten Finanzpolitik, zu abhängigen Krediten und Mangel an Reserven führte. Die Dollarisierung im Jahr 2000, Auswanderung und weitere Konsequenzen der Krise folgten – im Anschluss emigrierten zahlreiche Ecuadorianer; Kinder blieben ohne Eltern in Ecuador zurück und es entstand ein bislang unbekanntes Phänomen, der Suizid von Kindern.

In Spanien erfolgen jeden Tag 517 Zwangsräumungen von Wohnungen. 34 Prozent der Selbstmorde sind dadurch verursacht. Es ist unvorstellbar, dass nichts getan wird zum Schutz des Lebens der Bürger, sehr wohl aber einige wenige Banker gerettet werden.

Zurzeit sind 10.000 in Spanien lebende Ecuadorianer von Prozessen zur Zwangsräumung betroffen. Tausend unserer betroffenen Bürger wurden bereits von unserer Regierung kontaktiert, um sie über Rechtsfragen zu beraten. Wir haben 80 Fälle vorbereitet, um juristische Schritte gegen Banken mit missbräuchlichen Arbeitsmethoden einzuleiten, die unsere Auswanderer veranlassten, illegale Vertragsklauseln in die Hypothekenverträge aufzunehmen.

Einigen Mythen muss ein Ende bereitet werden

Eine Bemerkung zu der politischen Ökonomie, die sich hinter der Unabhängigkeit der Zentralbanken verbirgt. Es hat sich gezeigt, dass die neue Autonomie der Zentralbanken fatal wirkt bezüglich der Bekämpfung der Wirtschaftskrise. Mit der Autonomie der Zentralbank verzichtete die Exekutive nicht nur auf die effektivste Politik der Stabilisierung, sondern sie verzichtete praktisch auch auf die – zumindest kurzfristig – einzig verfügbare Politikoption, über die sie verfügte. Die Auswirkungen dieser Reformen waren noch erheblicher, verfügte doch sogar noch vor der Dollarisierung die Leitung der Zentralbank in makroökonomischen Fragen über eine höhere Machtbefugnis als der Präsident der Republik. Die Regierung war sogar direkt von der Zentralbank abhängig, da sie der wichtigste Betroffene von jeder Währungsabwertung oder Veränderung des Zinssatzes war, ganz besonders angesichts der hohen internen Verschuldung und Auslandsverschuldung des Zentralstaats.

Die Mode der autonomen Zentralbanken wurde zu Beginn der 1990er Jahre propagiert auf der Grundlage von empirischen Untersuchungen, die angeblich belegten, dass diese unabhängigen Institutionen bessere makroökonomische Entwicklungen ermöglichen. Die theoretische Begründung dieser "empirisch belegten Tatsache" war der Hinweis, dass so die Zentralbanken technisch handeln konnten, fernab von schädlichen "politischen" Einflussnahmen. Mit dieser Argumentation könnte man auch die Autonomie der Finanzministerien fordern…

So wurde die Wirtschaftspolitik, unabhängig davon, dass sie eben Politik darstellt, über Nacht in eine rein technische Angelegenheit umgewandelt, die ausschließlich von makellosen und höchstbezahlten Bürokraten geleitetet wurde, die nicht einmal einer demokratischen Kontrolle bedürften. Die Weltbank beobachtete wie immer aufmerksam jede funktionale Veränderung der herrschenden Paradigmen und organisierte sofort Seminare in ganz Lateinamerika, um die neuen "Entdeckungen" zu propagieren und die Unabhängigkeit der Zentralbanken der Region einzufordern. Innerhalb weniger Monate erreichten sie die Autonomie der meisten Zentralbanken der Region. Natürlich war dies eine "Autonomie" gegenüber den Völkern und deren Gesetzen, denn andererseits unterwarfen sie sich absolut dem Willen der Bürokratien des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank. Nebenbei sei angemerkt, dass die Mehrheit der leitenden Direktoren dieser lateinamerikanischen Zentralbanken ihre letzten aufopferungsvollen Arbeitsjahre in diesen Institutionen verbringen, ausgestattet mit reichlichen Gehältern, die sie zusätzlich zu den hohen Ruhestandsbezügen erhalten, deren Höhe häufig sogar noch von ihnen selbst in Ausübung ihrer "Autonomie" festgelegt worden war. In Ecuador okkupierte das Büro des IWF eine ganze Etage der Zentralbank, ohne Miete dafür zu zahlen.

In diesem Bereich schrieb Ecuador die Geschichte der Makroökonomie ein weiteres Mal um und zerstörte Mythen: Die intensivste makroökonomische Instabilität erfuhr das Land unmittelbar nach der Einführung der Autonomie der Zentralbank und es zeigte sich klar und deutlich, dass die dermaßen aufgeblähte Unabhängigkeit kein Bestandteil der Lösung, sondern eindeutig Teil des Problems war.

Die Kontrolle der Inflation als Beginn und Ende der Wirtschaftspolitik

Entsprechend den herrschenden Paradigmen war die Stabilität der Preise die notwendige Bedingung – der neoliberale Fundamentalismus machte daraus später eine hinreichende Bedingung – für die wirtschaftliche Entwicklung durch adäquate Zuordnung von Ressourcen durch nationale und internationale Märkte. Bedauernswerterweise führte diese Betonung der Inflationskontrolle zu einer Verwechselung von Mitteln und Zielen, denn die Minimierung der Inflation wurde zum zentralen und sogar ausschließlichen Ziel erklärt. Andere Ziele wie Wachstum und Schaffung von Arbeitsplätzen wurden vernachlässigt und oft sogar geopfert zugunsten der Makrostabilisierung der Preise.

Alle zentralen Regierungen in Lateinamerika richteten für die monetäre Politik autonome Zentralbanken ein, die ausschließlich auf die Kontrolle der Inflation ausgerichtet waren, obwohl es keine belastbaren Hinweise auf eine positive Korrelation zwischen höherer Unabhängigkeit der Zentralbank und höheren Wachstumsraten gibt.

Im Gegenteil: Von den Zentralregierungen abhängige und dem Wachstum verpflichtete Zentralbanken spielten eine grundlegenden Rolle bei der Entwicklung von Ländern wie Japan und Südkorea. Bis in die 1970er Jahre des vergangenen Jahrhunderts war das zentrale Anliegen der Federal Reserve (Zentralbank der USA), die Schaffung von Arbeitsplätzen und die Sicherung des wirtschaftlichen Wachstums. Angesichts der durch den Vietnam-Krieg bedingten inflationären Prozesse und nach Überwindung des Traumas der Großen Wirtschaftskrise wurde erst im Jahr 1977 in einem Ergänzungsantrag explizit als grundlegende Aufgabe der FED die Sicherung eines möglichst hohen und nachhaltigen Niveaus der Produktion und der Beschäftigung festgelegt und ergänzend die Sicherung der Stabilität der Preise gefordert.

Andererseits kann der Verlust der Handlungsfähigkeit der Regierung, bedingt durch eine von der Zentralregierung vollständig unabhängigen Zentralbank – ein extrem wichtiger Faktor in Lateinamerika – wesentlich größere Auswirkungen haben als die angeblichen Vorteile der größeren Unabhängigkeit. In Wirklichkeit ist die Verhinderung einer hohen Inflation wichtig für das Wachstum, aber die Minimierung der Inflation führt nicht zu mehr Wachstum. Dies ist der beliebteste Fehler der orthodoxen Wirtschaftswissenschaftler: Die den Fakten nicht entsprechende Logik, dass, wenn eine hohe Inflation unbestritten schlecht ist, es umso besser sei, je geringer die Inflation ist. Wie schrecklich müsste es sein, wenn diese Art von Wirtschaftswissenschaftlern Ärzte wären, denn sie wären zu der hervorragenden Schlussfolgerung gekommen, dass wenn Fieber schlecht ist, eine möglichst geringe Körpertemperatur am besten wäre!

In Wirklichkeit hat eine geringe und entsprechend vorhersehbare Inflation weder theoretisch noch empirisch belegbar relevante Auswirkungen auf das Wachstum und auf die Distribution und dies noch viel weniger, wenn angemessene Kompensationen wie die Anpassungen von Löhnen und Gehältern erfolgen. Wem also nützt eine derartige Politik? Um diese Frage zu beantworten, ist es notwendig, darauf hinzuweisen, dass es nur einen praktisch unvermeidbaren Nachteil bei der Inflation gibt, selbst wenn diese gering und vorhersehbar ist: Der Wertverlust von im Umlauf befindlichen Aktivposten. Dazu ein Beispiel: Wenn jemand über 100 Euro verfügt und ein Kilo Kartoffeln kostet 1 Euro, dann bedeutet dies, dass er 100 Kilogramm Kartoffeln kaufen kann. Wenn dann die Inflation 10 Prozent beträgt und ein Kilo Kartoffeln somit 1,10 Euro kostet, dann bedeutet dies, dass diese Person ungefähr 90 kg Kartoffeln kaufen kann. Es muss angemerkt werden, dass dieser inflationsbedingte Verlust jene betrifft, die über liquide Mittel verfügen, aber keinen Nettoverlust für die Gesellschaft impliziert, denn tatsächlich bedeutet dies einen Transfer von Ressourcen an die zentrale staatliche Institution, die für die Währung verantwortlich ist. Dieses Phänomen ist bekannt als Inflationssteuer. Man stelle sich das Geld vor als eine Verpflichtung der sie herausgebenden Institution. Jetzt ist die Institution verpflichtet, auf die gleiche Menge Geld mit weniger realen Werten zu antworten. Anders gesagt: Wer verfügt jetzt über die 10 kg Kartoffeln? Die Regierung.

Man stelle sich vor, wie groß der Verlust für die Besitzer verfügbarer liquider Mittel ist, wenn wir nicht über 100 Euro sprechen, sondern von Milliarden Euro. Welcher Sektor der Wirtschaft verfügt über liquide Mittel in solcher Höhe? Der Finanzsektor. So handelt es sich überwiegend um den Finanzsektor der Wirtschaft – welcher umfangreiche liquide Aktiva besitzt – der sich mit der Inflation tendenziell dekapitalisiert. Dies belegt erneut, dass die in Lateinamerika durchgeführte Wirtschaftspolitik, die jetzt leider auch in Europa durchgeführt wird, grundlegend darauf gerichtet war, das Finanzkapital zu schützen; unabhängig davon, was für Kosten dies für die anderen Akteure der Wirtschaft und für die Volkswirtschaft insgesamt verursacht.

Die Kosten der Hooverschen Politik

Die ausschließliche Priorität der Stabilisierung der Preise als Ziel der Wirtschaftspolitik bedeutete in der Praxis auch den Verzicht auf eine Fiskalpolitik, die ausgerichtet ist auf die umfassende Nutzung aller Ressourcen durch die Wirtschaft. So verwandelte sich die Fiskalpolitik in eine prozyklische Politik. Das bedeutete anstatt einer Linderung eine Verschärfung von Phasen der Rezession und Arbeitslosigkeit angesichts des Bemühens um hohe Haushaltsüberschüsse unabhängig von der Situation der Realwirtschaft. Mit ihr wird versucht, die Gesamtnachfrage zu kontrollieren, um die Inflation zu verringern, aber auch – und wahrscheinlich in erster Linie –, um Ressourcen mit dem Ziel freizusetzen, den öffentlichen Schuldendienst zu bedienen.

Paradoxerweise wurde diese Fiskalpolitik vom Internationalen Währungsfonds (IWF) propagiert. Er hat diese Politik sogar aufgezwungen. Diese 1944 auf der Grundlage der Konzepte des bedeutenden englischen Ökonomen John Maynard Keynes geschaffene Institution, deren Ziel in dem Lockern der finanziellen Restriktionen der nationalen Regierungen bestand, um eine antizyklische Politik durchzuführen und das Niveau der globalen Gesamtnachfrage stabil zu halten. Der IWF ist längst nicht mehr die Institution von Bretton Woods, ausgerichtet auf die keynesianische Politik der Stabilisierung der internationalen Nachfrage, sondern lediglich der Wachhund des internationalen Finanzkapitals. Der IWF ist kein Teil der Lösung, sondern Teil des Problems und die Menschen müssen sich dessen bewusst sein.

Es ist unbestritten, dass der Fortschritt der Nationen nicht erreicht werden kann durch die Vernichtung von Arbeitsplätzen, durch die Verringerung der Produktion, durch die Zerstörung von Hoffnungen und der sozialer Kohäsion. Dies entspricht einer Hooverschen Politik, so bezeichnet in Anlehnung an den US-Präsident Hoover, der zu Beginn der Großen Depression Nordamerikas in den 1930er Jahren mit derartigen Maßnahmen die Krise verschärft hatte.

Schlussfolgerungen

Ich befürchte, dass ich Sie enttäuschen werde, denn in meinen Schlussfolgerungen werde ich weder komplizierte mathematische Formeln noch unrealistische Produktionsfunktionen vorstellen. Sprechen wir über Politik. Warum wird nicht das Selbstverständliche getan? Und mehr noch: Warum wird gerade das Gegenteil gemacht? Die Antwort lautet Macht. Das Problem ist nicht technischer Natur, sondern die Politik.

Ich bin der Überzeugung, dass das schlimmste, was man der Wirtschaft angetan hat, darin besteht, dass man ihr die ursprüngliche Bedeutung als Politische Ökonomie entzogen hat. Man hat uns dazu gebracht, alles als eine technische Frage zu betrachten. Man hat Ideologie als Wissenschaft verkleidet und als von den Fragen der Macht innerhalb einer Gesellschaft abstrahiert wurde, wurden wir entbehrlich – wie es bereits John Kenneth Galbraith sagte…

Die europäischen Potenziale sind intakt. Sie verfügen über das Wichtigste: menschliche Fähigkeiten und Entwicklungspotenzial, Produktionsmittel, Technologie. Es ist keine reale Krise, es ist eine Finanzkrise – es gibt Probleme der Koordination. Die Form der Koordination, die analysiert werden muss, ist jene der makroökonomischen Politik und besonders der Geldpolitik.

Warum wird nicht das Selbstverständliche getan? Das Kapital will nicht verlieren. Alles soll dem Finanzkapital gemäß geschehen. Die Machtverhältnisse stehen zugunsten des Kapitals – ideologisches Getöse ist festzustellen. Die Menschen glauben, dass "es so sein muss." So muss es aber NICHT sein. Bei aller Bescheidenheit: Das haben wir in Ecuador gezeigt. Es ist ein Problem der Politischen Ökonomie: Wer in der Gesellschaft entscheidet, die Menschen oder das Kapital.

Die Herausforderung: Menschen sind wichtiger als das Kapital, Gesellschaften sind wichtiger als Märkte. Auf der Ebene der Wirtschaftswissenschaften: Rückkehr zur Politischen Ökonomie, Befreiung der realen Ökonomie von der Unterjochung durch die Finanzwirtschaft; Gesellschaften mit Märkten, nicht für Märkte. Dies ist die größte Herausforderung für all die jungen Menschen: Gesetze festzulegen, damit das Gerechte, wie es bereits Thrasymachos vor mehr als dreitausend Jahren sagte, nicht nur dem Stärksten zuträglich sei.

Ecuadors Präsident Rafael Correa (PhD) hielt diesen öffentlichen Vortrag am 16. April 2013 an der Technischen Universität Berlin