"Pueblo a Pueblo" in Venezuela: Nahrung ist keine Ware, sondern ein Menschenrecht

Eine Organisation bringt Campesinos und städtische Verbraucher zusammen und bricht mit dem Marktdiktat

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In Carache, dem Zentrum des Pueblo a Pueblo, pflügt ein Campesino das Land mit Hilfe von Zugtieren
In Carache, dem Zentrum des Pueblo a Pueblo, pflügt ein Campesino das Land mit Hilfe von Zugtieren

"Pueblo a Pueblo" ist eine Basisbewegung zur Organisierung von Produktion, Vertrieb und Verbrauch von Lebensmitteln. Das Projekt bringt die landwirtschaftlichen Erzeuger mit den Stadtbewohnern zusammen, womit es mit den rigorosen Diktaten des kapitalistischen Marktes bricht. Im ersten Teil dieser Serie berichten Mitglieder über die Geschichte ihrer Organisation und ihre Ziele.

Über "Pueblo a Pueblo"

Ricardo Miranda1: "Pueblo a Pueblo" bezeichnet eine Haltung, einen Plan und eine Methode, die darauf abzielen, den Widerspruch zwischen dem Land und der Stadt aufzulösen, um so die Mauern einzureißen, die das Kapital errichtet, um unterschiedliche Bereiche des Volkes voneinander zu trennen und sie zu isolieren.

Das vorhandene Marktsystem konzentriert sich auf den Konsum, es ignoriert aber Produktion und Verteilung. Bei "Pueblo a Pueblo" werden Produktion, Verteilung und Konsum zu dem verbunden, was wir "lebendige Wirtschaft" [economía viva] nennen. Diese neue Art von Wirtschaft kann sich nur außerhalb der herrschenden Mechanismen des entfremdeten Konsums entwickeln.

Was bedeutet das in der Praxis? Das Volk braucht die Kontrolle über Land, Saatgut und Verteilungsmechanismen, aber auch über den Konsum. Zu dem Zweck arbeiten wir zusammen mit den angeschlossenen Gemeinschaften in den Barrios und denen auf dem Land. In der Stadt, z.B. im Barrio San Agustín in Caracas, treffen sich die Menschen, um über die benötigten Produkte zu beraten und zu entscheiden. Die Erzeuger auf dem Land, die mit "Pueblo a Pueblo" zusammenarbeiten, können so ihre Produktion planen. Wenn die Ernte fertig ist, legt eine Erzeugerversammlung die Preise für die Produkte fest und zwar auf Grundlage der Produktionskosten. Die Erzeugnisse werden dann zu den Sammelstellen gebracht, der letzte Schritt sind organisierte Verteileraktionen ‒ so wie in San Agustín.

Damit entfällt der Zwischenhändler, also der kapitalistische Marktteilnehmer, der die Campesinos übervorteilt und denjenigen, die Obst und Gemüse auf dem Markt kaufen, zu hohe Preise abverlangt. Auf diese Weise sinken die Preise, Verschwendung und Ernteverluste gehen auch zurück.

Womit sich zeigt, dass der bestehende Markt nicht plant, sondern im Gegenteil: Das Einzige, was die Ökonomie des Kapitals antreibt, sind Profite und nicht die Bedürfnisse der Menschen. Bei "Pueblo a Pueblo" stimmen Produktion und Bedürfnisse überein, Erzeuger und Verbraucher treffen sich in einem konstruktiven Kreislauf, der auf realem Leben und nicht auf Profit basiert.

Für uns sind Lebensmittel keine Ware, sondern ein Menschenrecht. Unser Projekt bringt Erzeuger und Verbraucher als Subjekte zusammen und nicht als Randfiguren. In der Zeit zwischen den Anfängen von "Pueblo a Pueblo" und dem Ausbruch der Pandemie hatten wir fast 300 Verteilaktionen. Dabei wurden die Preise auf transparente Weise festgelegt, so dass niemand sich an der Arbeit anderer bereicherte.

Laura Lorenzo2: "Pueblo a Pueblo" ist ein Projekt, das die arbeitenden Menschen vom Land und aus der Stadt zusammenbringt, um denjenigen zu entkommen, die Handelsware aus dem machen, was die einen zum Leben herstellen und die anderen zum Leben brauchen.

Rechtlich gesehen sind wir eine Stiftung, aber bei unserem Projekt geht es nicht darum, Menschen in ein rechtliches Korsett zu zwingen, es geht um den freien und bewussten Zusammenschluss zu Gemeinschaften, die entschlossen sind, sich von den Marktdiktaten zu lösen.

Es begann im Jahr 2015. Ausgangspunkt für die Produktion war Carache im Andenstaat Trujillo, dazugekommen sind die Kommune El Panal und später San Agustín Convive als städtische Basisorganisationen in Caracas.

Außerdem gab es seit 2021 eine Zusammenarbeit mit 270 Schulen, um ihnen die Erzeugnisse zu liefern, die sie benötigten, um gute Mahlzeiten für fast 100.000 Kinder zu kochen. Gerade dies ist wichtig in einer Zeit, in der sich die Blockade auf die Ernährung der Kinder auswirkt. "Pueblo a Pueblo" sorgt für vielfältige und ausgewogene Schulmahlzeiten mit Vor-Ort-Begleitung und ohne Zwischenhändler.

Salvador Salas3: Im Kapitalismus sind die Arbeitskräfte auf dem Land von denen in der Stadt durch kaum zu überwindende Mauern getrennt. Jeder versteht, dass die Güterversorgung im kapitalistischen System für arbeitende Menschen ein Problem ist. Der Zwischenhandel trennt die Welten von Produzenten und Konsumenten, und es ist nicht leicht, diese Trennung zu überwinden.

Um dies zu ändern, müssen wir uns klarmachen, wie diese Barriere aufgebaut ist. Es geht nicht nur darum, dass die Zwischenhändler die Lastwagen, die Silos und die Genehmigungen haben, was an sich schon wichtig ist. Es geht auch um die Ressourcen, die für den Anbau einer Pflanze benötigt werden. Um einen Hektar Tomaten anzubauen, braucht der Erzeuger Saatgut und andere Mittel; die Kosten für die Betriebsmittel gehen in die Tausende von Dollar.

Um die Ernte zu finanzieren, sieht ein Campesino sich oft gezwungen, sich an einen Kapitalgeber im Vertriebsgeschäft zu wenden; dieser liefert die Betriebsmittel, aber zu Bedingungen, die für den Campesino sehr ungünstig sind. Durch solche Geschäfte verlieren die Bauern die Kontrolle über den Produktionsprozess, und einige machen am Ende sogar Verlust.

Gabriel Gil4: Deshalb regeln wir in "Pueblo a Pueblo" die bäuerliche Produktion und den Konsum der Arbeiterklasse ohne kapitalistische Vermittlung oder Verteilung.

Ich sollte noch etwas hinzufügen: Die kleinbäuerliche Produktion ist tatsächlich sehr effizient. Nach Angaben der "Sociedad Científica Latinoamericana de Agroecología" werden etwa 70 Prozent des weltweit konsumierten Obstes und des Gemüse von Kleinbauern produziert. Andere Quellen, wie die Berichte der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen, kommen zu ähnlichen Zahlen, Venezuela ist gar keine Ausnahme.

Salvador Salas: Werfen wir einen Blick auf unsere Erfahrungen bei "Pueblo a Pueblo": Zwischen 2015 und 2020 wurden im Rahmen unseres Plans vier Millionen Kilo Güter verteilt, mit denen sich tausende von Menschen ernährten. Das meiste davon stammt von den 140 angeschlossenen Erzeugern, die insgesamt etwa 100 Hektar Land bewirtschaften.

Das zeigt, dass bäuerliche Produktion - gerade in Zeiten, in denen sich die Krise des Kapitals mit der imperialistischen Belagerung Venezuelas verbindet - nicht nur effizient ist, sondern auch den Ausweg weist. Konventionelle Landwirtschaft ist destruktiv für die Umwelt, für das Sozialgefüge und die Souveränität, und der Ertrag pro Hektar ist tendenziell niedriger als bei kleinbäuerlicher Produktion.

Deshalb plädieren wir für ein selbstorganisiertes Modell, das den Markt abschafft indem es Erzeuger und Verbraucher zusammenbringt, und das die Umwelt, die Bauern und die Verbraucher schützt.

Gabriel Gil: Die "Grüne Revolution", die in den 1960-ern hier Einzug hielt, führte zum Bruch zwischen Bauern und Natur. Damals setzte sich die industrielle Landwirtschaft mit einem Modell durch, das Boden und Wasser verschmutzt und dem Land die Nährstoffe entzieht. Dieses Modell begünstigt das Kapital gegenüber dem Leben der Bauern - und dem Leben im Allgemeinen - und stellt die übergreifenden Unternehmerinteressen über die eigenen nationalen Vorstellungen.

"Pueblo a Pueblo" ist ein Projekt, das nicht nur die Barrieren zwischen städtischer und ländlicher Arbeiterschaft abbaut, sondern auch die Verwendung eigenen Saatguts und agroökologischerPraktiken fördern will. Nun könnte man zweifeln, ob das tatsächlich machbar ist. Ja, ist es: Während ein Hektar mit gentechnisch verändertem, agroindustriellem Mais bis zu 10.000 Kilo Mais ergibt, kann ein ökologisch und bäuerlich bewirtschafteter Hektar höheren Ertrag bringen, und die Ernte wird diversifiziert.

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Carache ist der ländliche Ursprung des Projekts
Carache ist der ländliche Ursprung des Projekts

Ana Dávila5: Die Campesinos von "Pueblo a Pueblo" sind Teil des "Netzwerks freier Produzenten" (Red de Productores Libres y Asociados). Carache ist der ländliche Ursprung des Projekts, weitere Produzenten gibt es in verschiedenen Bundesstaaten, darunter Lara, Portuguesa, Yaracuy und Barinas. Die Bauern produzieren für unser Verbrauchernetzwerk, in welchem Gemeinschaften aus Caracas, Miranda, La Guaira, aus Aragua und Carabobo organisiert sind. Ich würde sagen, dass unsere wichtigste Errungenschaft darin besteht, Produzenten und Konsumenten zusammenzubringen. Wenn Campesino und Barrio-Bewohner einander in die Augen sehen, wenn sie die Geschichten des anderen hören, entsteht eine klassenbewusste Solidarität.

Ein weiteres unserer Anliegen war es, eigene Kostenstrukturen außerhalb des Systems zu schaffen, was folgendes bedeutet: Unsere Preise werden nicht vom Markt, sondern von den Campesinos bestimmt, die somit keinen Preisspekulationen ausgesetzt sind. Auch die Verbraucher sind nicht den Launen des Marktes ausgeliefert, wo die Preise oft grundlos in die Höhe gehen. Das bedeutet, dass die Erzeuger bei "Pueblo a Pueblo" eine faire Bezahlung für ihre Ernte erhalten und dass die Verbraucher in der Lage sind, Lebensmittel zu Preisen zu beziehen, die bis zu 70 Prozent unter dem Marktpreis liegen.

Wie Sie sich vorstellen können, ist all dies sehr wichtig in einem Land, das einer brutalen US-Blockade ausgesetzt ist.

Die Leitprinzipien von "Pueblo a Pueblo"

Gabriel Gil: Um "Pueblo a Pueblo" zu verstehen, ist es wichtig, die fünf agroökologischen Dimensionen zu benennen, die wir fördern und die auch universelle Prinzipien sind.

Die erste Dimension für uns ist die Verkürzung der zerstörerischen Distanz zwischen Land und Stadt. Mit anderen Worten, es geht um die Verteilung von Lebensmitteln ohne Zwischenhändler, Spekulanten und andere Akteure. Sie [die Zwischenhändler] sind in der Lage, die Produktion an sich zu reißen, weil die kapitalistische Welt so konzipiert ist, dass Konsum auf der einen Seite und die Produktion auf der anderen Seite konzentriert ist.

Deshalb arbeiten wir an Systemen, bei denen Erzeuger und Verbraucher sich ohne Zwischenhändler und außerhalb von Marktverwerfungen austauschen. Auf diese Weise entsteht eine solidarische, geschwisterliche Klassenverbindung zwischen Erzeugern und Verbrauchern. Dies ermutigt den Campesino, sorgfältiger und mit weniger Giftstoffen zu produzieren, und der Städter überwindet den Zustand des entfremdeten Konsumenten, und vielleicht kommt er sogar nach Carache, um bei der Ernte zu helfen.

Ein weiteres unserer Prinzipien ist die Rettung von Land und Territorium. Wenn wir von Rettung des Landes sprechen, dann meinen wir Aktionen, die Campesinos zu Eigentümern des Landes machen. Wenn wir von der Befreiung der Territorien sprechen, so meinen wir auch die kulturelle Wiederaneignung.

Und was bedeutet das konkret? Wenn Campesinos die Kontrolle über ein Stück Land übernehmen, so ist das gewiss gut. Wenn sie jedoch weiterhin im konventionellen, hochgradig umweltschädlichen System arbeiten, so reproduzieren sie nur die bestehenden Lebensweisen. Deshalb fördert "Pueblo a Pueblo" auch den kulturellen Wandel, bei dem Werte wie Solidarität, Kooperation und Vergemeinschaftung wieder ins Zentrum rücken.

Dazu kommt das Prinzip, gesunde Nahrungsmittel zu erzeugen. Und das bedeutet, eine andere Gangart einzulegen und den Einsatz chemischer Pestizide und anorganischer Düngemittel hinter sich zu lassen. Skeptiker mögen sagen, dass dies alles nicht machbar sei. Aber laut Miguel Angel Altieri, einem international anerkannten Experten für Agrarökologie, liegen die Erträge der konventionellen, biotechnischen Landwirtschaft unter denen der bäuerlichen Landwirtschaft. Eine Parzelle Monokultur zum Beispiel kann 10.000 Kilo Mais pro Hektar erbringen, aber eine diversifizierte Campesino-Parzelle wird Kochbanane, Yucca und Avocado (um nur einige zu nennen) anbauen und dabei systematisch eine größere Ernte einbringen als die Monokultur.

Der conuco, die milpa, die chacra ‒ so heißen die Anbauflächen der Bauern in Lateinamerika ‒ sind der Schlüssel zur Ernährungssouveränität. Und warum? Weil intensive Pflege, Diversifizierung, Fruchtwechsel und andere nicht-industrielle Praktiken wie der Einsatz von Zugtieren zu hohen Ernteerträgen führen und dem Boden nicht die Nährstoffe entziehen.

Ein weiterer Grundsatz von "Pueblo a Pueblo" ist die Weiterentwicklung der Campesino-Produktion. Traditionell nehmen Indigene, Schwarze und allgemein conuco-Erzeuger einen Teil ihrer Ernte und verarbeiten sie zu Mehl und anderen Produkten für die eigene Vorratskammer. Wir wollen diese Praxis ausweiten, damit die Erzeuger ein eingebautes Sicherheitsnetz haben und Verbraucher die verarbeiteten Produkte erwerben können. Auf diese Weise vermeiden Erzeuger und Verbraucher die hochgradig verarbeiteten Lebensmittel, die unserer Gesundheit schaden und die vom globalen agroindustriellen Komplex kontrolliert werden.

Und nicht zuletzt die Organisation. Für den Erfolg unkonventioneller, gesunder, nicht-marktförmiger Praktiken ist Organisation das A und O. Wir brauchen eine neue Perspektive. Die Menschen in Stadt und Land sollten sich um das alternative Modell herum organisieren, und auch die Institutionen müssen den Wandel fördern. Den Wandel hin zu etwas, das gerade jetzt, in einem belagerten Land, von zentraler Bedeutung ist: die Souveränität unserer Ernährung.

Wir sagen oft, dass wir zwei Schritte vom Hunger und einen Schritt von Ernährungssouveränität entfernt sind. Wenn wir den richtigen Weg einschlagen, werden wir gedeihen. Wenn nicht, so kann sich die Krise verschärfen.

Die Ursprünge von "Pueblo a Pueblo"

Ricardo Miranda: Die Geschichte von "Pueblo a Pueblo" lässt sich bis in die 1980er Jahre und den Kampf der Bauern um ihr Land zurückverfolgen. Damals brachte ein langer Konflikt in Los Cañizos-Palo Quemao im Bundesstaat Yaracuy Studenten der Universität und Campesino-Familien zusammen. Die Campesinos waren in den späten 1950ern von ihrem Land vertrieben worden, als tausende Hektar in die Hände von Kubanern gerieten, die Zuckerrohr anbauten.

In einem Lager in der Nähe von Los Cañizos leisteten wir Widerstand gegen die brutale Unterdrückung durch Militär und Polizei, wir bauten Barrikaden, es gab Scharmützel mit dem Militär, Pestizide wurden aus dem Flugzeug gesprüht, was das Vieh tötete und die Jungen und die Alten krank machte. So kamen wir in Bewegung, damals schrieb ein Journalist von Le Monde Diplomatique einen Artikel über die "chemische Kriegsführung" gegen das venezolanische Volk.

Wir stürmten die spanische und die mexikanische Botschaft in Caracas. 1991 musste [Präsident] Carlos Andrés Pérez schließlich nachgeben, und die Campesinos konnten endlich auf ihr Land und sich dort niederlassen.

Ich war mit vielen anderen dabei, und diese Erfahrung veränderte nicht nur unser Bewusstsein für den Kampf der Campesinos, wir lernten auch, dass mittels öffentlicher Medien breite Sympathie für die Kämpfe auf dem Land erreicht werden kann.

Ab 1991 waren wir Teil der Bauernbewegung Jirajara. In Los Cañizos erkannten wir, dass die Zwischenhändler den Bauern das Leben aussaugten, und wir machten unseren ersten Versuch, die abzuschaffen. In Caracas gab es eine Gruppe von Priestern, die sich für die Menschen einsetzten, und wir errichteten dort mehrere Zentren zur Verteilung der bäuerlichen Produktion.

Am Anfang war es nicht leicht, wir hatten einiges an Produktionsausfällen. Aber auf diese Weise fingen wir an, etwas von Verteilung zu verstehen. In Los Cañizos haben wir unser Handwerkzeug gelernt; wir lernten etwas über Organisation, über landwirtschaftliche Produktion, aber auch, dass es nicht reicht, die Kontrolle über das Land zu haben. Es ist ebenso wichtig, über Verteilung und Konsum und die Sozialstrukturen nachzudenken. Dies ist eine Aufgabe, die beim Bolivarischen Prozess immer noch ansteht.

Ich möchte ergänzen, dass unser Blick viel weiter zurückreicht, bis ins 16. Jahrhundert, als Miguel de Buría und sein Partner Guiomar, die in Dahomey [heutiges Benin] gefangen genommen wurden und nach Yaracuy verkauft worden waren, sich gegen ihre Sklavenhalter auflehnten und "Cumbes", befreite Gebiete, gründeten. In diesen freien Gebieten lebten ehemals versklavte und indigene Menschen in Gemeinschaft. Für "Pueblo a Pueblo" ist es von erheblicher Bedeutung, auf diese Vergangenheit zurückzublicken.

Wobei der Ursprung von "Pueblo a Pueblo" auch auf [den 2013 verstorbenen Präsidenten Hugo] Chávez zurückgeführt werden kann. Und auf das Landgesetz von 2001, das den Weg für die Revolution auf dem Land öffnete.

In den frühen 2000ern übernahmen Laura, Gabriel, auch ich und andere Genossinnen und Genossen Posten in der staatlichen Agrarbürokratie in Yaracuy. Von dort aus konnten wir die bäuerliche Produktion gut unterstützen: Wir verteilten zehntausend Traktoren und setzten uns ein für das "Dekret 090".

Laura Lorenzo: Das Dekret 090 ist ein wichtiger Teil unserer Geschichte. Es wurde 2004 verabschiedet und war hilfreich zur Aktivierung des Bodengesetzes in zwei Bundesstaaten: Cojedes und Yaracuy. Das Dekret war ein juristisches Instrument, aber auch ein sozialer Hebel, der es landlosen Campesinos ermöglichte, effektiv ihr Land zurückzugewinnen.

Das Dekret machte, kurz gesagt, das Bodengesetz anwendbar: Nach einer juristischen und technischen Überprüfung eines reklamierten Grundstücks und mit dem Dekret in der Hand, konnten die Menschen zum Landstück gehen und es in Besitz nehmen. Allein in Yaracuy, wo wir tätig waren, wurden 110.000 Hektar zurückgewonnen, und für hunderte, wenn nicht tausende Bauernfamilien gab es Gerechtigkeit.

Ricardo Miranda: Die Jahre, in denen wir Regierungsämter hatten, waren lehrreich und ermöglichten uns ein umfassendes Verständnis der bäuerlichen Situation, genauer gesagt Verständnis der Notlage der Bauern im Kapitalismus. Auf dem Weg dorthin hatten wir zwei Engpässe, zum einen die Frage der Güterverteilung und außerdem die Frage der politischen Bildung.

Chávez war unser Lehrer und als er starb, da war der Raum, den er mit seinen Denken gefüllt hatte, leer.

2014 verließen wir unsere Büroposten, um direkt auf dem Land mit den Campesinos zu arbeiten, wobei wir aber weiterhin mit staatlichen Stellen kooperierten. Unsere Idee war, die Barriere zwischen Stadt und Land zu überwinden, wichtig war uns auch, neue und eigene Denkweisen bei den Campesinos und den städtischen Arbeitern zu verankern.

So machten wir uns auf den Weg und begannen, die Route der Simón Bolívar-Guerillafront [der Fuerzas Armadas de Liberación Nacional, FALN] zurückzuverfolgen, die in den 1960er Jahren gegen die korrupte Regierung und das Kapital rebelliert hatte. Angeführt von Argimiro Gabaldón kämpfte sie damals in den Bundesstaaten Yaracuy, Portuguesa, Barinas, Lara und Trujillo.

Auf der Suche nach einem Ort, um mit dem Aufbau eines gerechten Modells für Produktion, Vertrieb und Verbrauch der bäuerlichen Produktion zu beginnen, erfuhren wir, dass die Guerillafront in ihrem gesamten Gebiet die Campesinos schon organisiert und zur Gründung ländlicher Finanzkassen ermutigt hatte. Außerdem förderte sie die Gründung von Genossenschaften und von Bauernverbänden.

So beschlossen wir, das, was die Guerilleros schon geleistet hatten, in deren Sinne weiter zu verfolgen.

Wir folgten der historischen Route der Guerilla und gelangten nach Carache im Páramo de Tucamán im Bundesstaat Trujillo. In den 60ern hatte Gabaldón "Carache" als seinen Guerrilla-Namen gewählt, fünf Jahrzehnte später machten wir Carache zum Ursprungsort des Plans ""Pueblo a Pueblo"".

Im Jahr 2015, unserem offiziellen Geburtsjahr, begannen wir mit dem Ernst zu machen, was wir die "doppelte Partizipation" nennen [siehe Teil II dieses Gesprächs], also damit, Produzenten und Konsumenten zusammenzubringen, um den kapitalistischen Zwischenhandel auszuschalten.

Unsere Geschichte ist im Inneren verwoben mit den Kämpfen der Campesinos, die unterdrückt werden durch das landraubende Agrarmodell, das den Kapitalismus ausmacht.

14. Mai 2023

venezuelanalysis


Umgehung der Blockade: "Pueblo a Pueblo" baut Ernährungssouveränität von unten auf (Teil II)

In Teil II sprechen die assoziierten Produzierenden und "Pueblo a Pueblo"-Mitglieder über die "Leiter der doppelten Beteiligung" und über die Auswirkungen der US-Blockade. Teilnehmende: Ana Daniela Dávila, Laura Lorenzo Gabriel Gil und Ricardo Miranda vom "Pueblo a Pueblo"- Koordinationsteam und die Produzierenden aus Carache Carmen Marquina, Josefa Zapata, María Godoy, Nadia Linares, Luis Velázquez, Antonio Bracamonte und Ronald Moreno

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Doppelte Beteiligungsleiter: Links ländliche Produzenten, rechts organisierte Konsumenten
Doppelte Beteiligungsleiter: Links ländliche Produzenten, rechts organisierte Konsumenten

Die doppelte Beteiligungsleiter

Ricardo Miranda: Die "doppelte Beteiligungsleiter" (Escalera de Doble Participación) ist eine Methode, ländliche Erzeuger und städtische Arbeiterklasse miteinander zu verbinden und zu integrieren. Wir entziehen also die Ernährung dem Marktgeschäft und stellen den Nutzwert ‒ das Leben ‒ in den Mittelpunkt.

Ana Daniela Dávila: Bei der doppelten Beteiligungsleiter geht es um Kooperation von Stadtbewohnern und "Campesinos", also darum, dass Produktion, Vertrieb und Konsum nicht von Dritten, von kapitalistischen Interessen, gelenkt werden, sondern dass sie sich nach den Bedürfnissen der teilnehmenden Kommunen richten.

Dabei wird die Produktion auf Grundlage sowohl des städtischen Verbrauchs als auch der Erntezyklen auf dem Land geplant. Bei der doppelten Beteiligungsleiter geht es außerdem um Änderung von Konsummustern und die Abkehr von konventioneller, auf Pestiziden basierender Landwirtschaft. Deshalb ist Bildung ein wichtiger Bestandteil des Projekts.

Nun könnte man nachfragen: Wie sollen Menschen von den Konsumgewohnheiten des Marktes wegkommen, die ihnen über Generationen vorgegeben wurden. Wie können sich die Campesinos von der marktorientierten Landwirtschaft lösen, die ihnen seit Jahrzehnten als die Lösung all ihrer Probleme angepriesen wurde?

Wenn "Pueblo a Pueblo" in eine Gemeinde geht, dann sprechen wir mit den Menschen und halten Versammlungen ab. Außerdem organisieren wir Workshops zu Themen wie Kompostierung, Diversifizierung von Kulturen, Auswahl und Pflege von Saatgut, Fruchtfolge, Konservierung von Lebensmitteln usw.

Die Erzeuger auf dem Land werden gewiss nicht auf ökologische Produktion umstellen, wenn ihnen keine Alternative zur Dauerpropaganda geboten wird, wie sie Monsanto & Co von sich geben. In der Stadt ist es dasselbe: Die Verbraucher werden nicht von hochverarbeiteten Lebensmitteln ablassen, wenn sie nicht über Alternativen gegenüber der allgegenwärtigen Werbung aufgeklärt werden.

Es ist außerdem wichtig, dass die Menschen die Welt des jeweils anderen kennenlernen, dass also Produzenten und Verbraucher wissen, wer die Gegenüber auf der anderen Seite sind.

Als "Pueblo a Pueblo" anfing, kamen städtische "Konsumenten" ‒ etwa aus San Agustín, einem Barrio in Caracas ‒ nach Carache, um von den Campesinos zu lernen, die Campesinos ihrerseits gingen nach San Agustín, um die Organisation dort zu verstehen. Bei "Pueblo a Pueblo" geht es um rationale Produktion, die aber sozial angelegt ist und auf menschlichen Bedürfnissen beruht.

Gabriel Gil: Planung ist der Schlüssel für das Funktionieren der doppelten Beteiligung, und sie muss beidseitig sein: im Barrio, wo das Volk die Erzeugnisse bekommt, und auf dem Land, wo die Erzeuger ihre Produktion planen und machen.

Außerdem fördern wir die Diversifizierung des Fruchtanbaus. Das bedeutet, dass jeder Erzeuger vier oder mehr Sorten gleichzeitig anbaut, um die Risiken gering zu halten, die sowohl die Umwelt als auch den Markt betreffen.

Wir sind überzeugt vom agrarökologischen Wandel, der im Interesse sowohl von Erzeuger und Verbraucher ist, nicht aber unbedingt im Marktinteresse. Deshalb organisieren wir Workshops zu Saatgut und für organische Düngemittelproduktion.

Schließlich - das ist der Schlüssel für die "Leiter-Theorie" ‒ organisiert das "Konsumentennetzwerk" die Verteilung der Produkte und sorgt für prompte Zahlungen. Gerade Letzteres ist wichtig, weil der kapitalistische Zwischenhändler oftmals lange braucht, die Campesinos zu bezahlen ‒ was die in Schwierigkeiten bringen kann.

Ricardo Miranda: Die doppelte Beteiligungsleiter löst die Widersprüche zwischen Land und der Stadt, in denen moderne Gesellschaften gefangen sind. Die "Leiter" bringt Produzenten und städtische Verbraucher einander näher. Die Frage ist, wie das im Einzelnen gemacht ist. Eine genaue Analyse, die die Menschen in den Barrios und in den ländlichen Gemeinden durchführen, erzeugt einen "Nutzungs-Kreislauf", der es möglich macht, die Bedürfnisse beider Seiten in menschlich guter Weise zu befriedigen.

Dieses Verfahren ermöglicht den Campesinos Landanbau nach menschlichen Bedürfnissen; Bauer oder Bäuerin sind nicht den Launen der "unsichtbaren Hand" des Marktes überlassen. Nahrung ist für uns kein Handelsgut, Nahrung ist grundlegendes Menschenrecht. Deshalb machen wir die Preisbildungen in "Pueblo a Pueblo" öffentlich, Grundlage ist der Erhalt des bäuerlichen Lebens.

Das Konzept der transparenten Preise ist nicht zu verwechseln mit "fairen" oder "solidarischen" Preisen, die unscharfe Begriffe sind. Von transparenten Preisen reden wir, weil wir wissen, wie viel die Bauern für Saatgut und Betriebsmittel bezahlt haben, wie hoch die Gesamtkosten waren, wie hoch die Transportkosten und wie viel nach Verkauf in den Händen der Bauern übrig bleibt. All dies ist möglich, weil unser Modell selbstorganisiert ist und keine Zwischenhändler oder Ladenbesitzer beteiligt sind.

Die doppelte Beteiligungsleiter basiert auf ethischen Grundsätzen, nicht auf Ausbeutung. Die Ethik betreffend ist es interessant, dass die rund 260 Lebensmittel-Verteilaktionen, die wir seit 2015 durchgeführt haben, nicht durch schriftliche Dokumente oder Kaufaufträge gesichert wurden. Stattdessen war gegenseitiges Vertrauen die Grundlage dieser Tauschvereinbarungen.

Laura Lorenzo: In der konkreten Praxis ging es mit der "Leiter" so: Wir arbeiteten über Jahre mit der Kommune El Panal in "23 de Enero" [Barrio in Caracas]. Dort waren es um die dreitausend Familien, die bei "Pueblo a Pueblo" mitmachten und gemeinsam ihren tatsächlichen Bedarf ermittelten. Die Produzenten konnten daraufhin entscheiden, was an Bodenfläche, Saatgut, Betriebsmitteln usw. benötigt würde und konnten die Anbauzyklen planen. Gleichzeitig war zu klären, wie viele Silos man benötigt, wie hoch der Transportbedarf ist, wie viel Treibstoff benötigt würde und so weiter.

Die Verteilung der Lebensmittel war ein Geschäft solange wir uns erinnern. Mit unserer Methodik jedoch gelangten vier Millionen Kilo, die wir zwischen 2015 und 2020 verteilten, bis in die Haushalte der venezolanischen Arbeiterklasse, ohne über einen "Markt" zu gehen - die doppelte Beteiligungsleiter machte uns das möglich.

Assoziierte Produzentinnen und Produzenten

María Godoy: Als "Pueblo a Pueblo" Carache zu seinem Zentrum machte, sprachen sie als erstes mit den Menschen und veranstalteten Versammlungen. Aber sie wandten sich auch an die nationale Regierung wegen der Instandsetzung der Straßen, die in schlechtem Zustand waren. Es versteht sich, dass ein guter Straßenzustand kritisch sein kann für die Aufrechterhaltung von Produktion.

"Pueblo a Pueblo" arbeitet zusammen mit kleinen und mittleren Erzeugern und unterstützt sie bei der Güterverteilung, beim Saatgut und bei den Betriebsmitteln, und, besonders wichtig, veranstaltet Workshops, um wegzukommen von den kommerziellen Anbaumethoden, die schädlich sind für die Erde, für die Erzeuger und Verbraucher.

Josefa Zapata: Für mich als Produzentin bei "Pueblo a Pueblo" ist es am wichtigsten, verantwortungsvoll zu arbeiten. Ich bin alleinstehende Campesino-Frau und musste mir mein Handwerk selber beibringen. Ich musste mir sogar das "Recht" erkämpfen, auf meinem eigenen Land anzubauen. Machismo ist hier tief verwurzelt, und es ging nicht von heute auf morgen, den Respekt der anderen zu bekommen. Ich habe das alleine geschafft, aber ich hatte auch die Unterstützung von "Pueblo a Pueblo".

Als ich zu "Pueblo a Pueblo" kam, wurden meine Aussichten, die eigenen Produkte zu verkaufen, erheblich besser. Sie brachten mir auch bei, wie man Saatgut produziert, und jetzt ist meine Produktion breit gefächert: Ich baue Sellerie an, schwarze Bohnen, Mais, Tomaten, Frühlingszwiebeln und Brokkoli. Ich habe auch ein Saatbeet, das zu einem wichtigen Teil meines Einkommens geworden ist. Ich züchte sowohl Saatgut als auch Setzlinge.

Nochmal zur Frage der Organisation: Bei "Pueblo a Pueblo" treffen sich die Produzenten alle zwei Wochen. Bei diesen Treffen planen wir gemäß der Anfragen unserer Brüder und Schwestern in der Stadt und ebenso entsprechend der Nachfrage nach Lebensmitteln, die von Schulen kommen, die wir bei "Pueblo a Pueblo" auch bedienen.

Antonio Bracamonte: "Pueblo a Pueblo" gründete sich in Carache am Beginn des Wirtschaftskrieges, als die Beschaffung von Saatgut schwieriger wurde. "Pueblo a Pueblo" hat uns geholfen, gemeinsam unsere Abhängigkeit von den Zwischenhändlern zu durchbrechen, die mit der Arbeit der Bauern Profit machen. Die Praktiken der kapitalistischen Zwischenhändler sind hinterhältig. Um ein Beispiel zu geben: Sie zahlen uns vielleicht zwei Bolívares pro Kilo für eine LKW-Ladung Sellerie, aber wenn sie in Caracas ankommen, ist der Preis bei dreißig !

Nur kann man sich nicht einzeln aus der Abhängigkeit von Zwischenhändlern befreien. An dieser Stelle kommt "Pueblo a Pueblo" ins Spiel. Wie wir betonen: "Ein Baum alleine macht noch keinen Wald". Wenn wir uns nicht organisieren, dann werden wir vom Markt verschlungen!

Bei Chávez ging es darum, dem Volk Macht zu geben. Deshalb ist Organisation so wichtig. Was die ländlichen Gebiete betrifft, so sprach Chávez davon, dass die Bauern die Kontrolle über ihr Land und ihre Produkte brauchen, und davon, dass sie die Marktlogik überwinden müssen. "Pueblo a Pueblo" macht genau das, und nicht nur mit Worten. Sondern mit Methoden, die funktionieren und deren Eckpfeiler die Organisationen an der Basis sind.

Luis Velázquez: Argimiro Gabaldón und seine Leute waren auch hier und gewannen große Sympathien bei den Campesinos von Carache. Jahrzehnte später, als "Pueblo a Pueblo" ankam, waren wir besser in der Lage, uns gemeinsam um die "Saat" zu kümmern, die Argimiro und dann Chávez in diesen fruchtbaren Boden gesetzt hatten.

Die Workshops von "Pueblo a Pueblo" halfen uns bei der Abkehr von schädlichen Anbaumethoden, sie organisierten die Kommune und die Kommunalen Räte6 und sie verbesserten gründlich die Situation der Produzenten durch die Zusammenarbeit mit der Regierung, um die Straßen wieder ganz zu machen.

Vertrauen

Laura Lorenzo: Wir, die Organisatoren von "Pueblo a Pueblo", haben unsere Wurzeln im Kampf der Bauern, aber wir kommen aus dem Flachland von Yaracuy und nicht aus diesen Bergen.

Als wir hier ankamen, wussten wir, dass es für uns nicht leicht sein würde, das Vertrauen der Campesinos zu gewinnen, also sprachen wir mit ihnen über unseren Traum, die Barriere einzureißen, die der Kapitalismus zwischen Land und der Stadt errichtet, um das Volk auszuplündern. Die Idee, die Zwischenhändler abzuschaffen, rührte natürlich an die Fantasie der Leute, aber wir mussten zeigen, dass die Träume nicht nur Wunsch und leere Worte waren.

Das Wichtigste beim Aufbau von Vertrauen ist das Einhalten von Versprechen; unser Wort in "Pueblo a Pueblo" muss "heilig" sein. Wenn ein mit Produkten beladener Lastwagen losfährt, dann wissen die Campesinos, dass sie vollständig und schnell ihr Geld bekommen. Sie wissen auch, dass sie sich auf "Pueblo a Pueblo" verlassen können, wenn sie Probleme haben, oder dass sie einen der beiden verfügbaren Traktoren benutzen können und uns mit Saatgut zurückbezahlen.

Aber bei "Pueblo a Pueblo" geht es nicht nur um die Befriedigung des Elementarbedarfs. Kurz nachdem wir ankamen, entdeckten wir, dass die Menschen in Carache für Musik, Theater, Poesie empfänglich sind, und so begannen wir, Brücken durch Kultur zu bauen, indem wir Joropo-Tanzworkshops und andere Kultur-Events organisierten.

Die Auswirkungen der Blockade

Josefa Zapata: Das Leben der Campesinos ist nie einfach gewesen, aber die Blockade hat unser Leben noch schwieriger gemacht. Die größten Engpässe für viele von uns waren die Beschaffung der Betriebsmittel und der Transport unserer Produkte. Die Folge war, dass der Ertrag in den letzten Jahren stark zurückgegangen ist, ich selber habe eine komplette Ernte Frühlingszwiebeln eingebüßt.

Aber die Tatsache, dass wir mit "Pueblo a Pueblo" zusammenarbeiten, hat uns widerstandsfähig gemacht. Einerseits stelle ich mein eigenes Saatgut her. Das habe ich bei Gabriel Gil gelernt, der vielen von uns beigebracht hat, wie man Saatgut macht und wie man eine Gärtnerei aufbaut. Andererseits hat er uns auch gezeigt, wie man organischen Dünger herstellt. Das ist eine der Stärken unserer Organisation, die Abkehr von kommerziellen Praktiken, die uns abhängig halten.

Laura Lorenzo: Die Krise, die Pandemie und die Blockade haben uns in "Pueblo a Pueblo" sehr geschadet. Aber wir haben auch gelernt, dass unser Modell gut ist, dass es Lösungen für die Menschen bietet und in die richtige Richtung geht, in Richtung Souveränität für die Ernährung.

Die Probleme fingen 2017 an, als die faschistische Rechte des Landes den Osten von Caracas "in Brand steckte". Damals arbeiteten wir bei La Hidrológica de Chacao, einer Kommune, die von oppositionellen Gewalttätern belagert war. Das bedeutete, dass wir die Produkte nicht mehr zur Kommune bringen konnten. Die Preise begannen in die Höhe zu schießen, auch die Preise für landwirtschaftliche Betriebsmittel, von denen einige einfach nicht mehr zu bekommen waren, schließlich wurde noch der Treibstoff knapp.

Treibstoffmangel hat verheerende Auswirkungen auf die Nahrungsmittelproduktion. Obwohl ein Großteil der Feldarbeit in Carache mit Zugtieren erledigt wird, gingen in der schlimmsten Zeit der Krise ganze Ernten verloren. Die Lage ist immer noch ernst. Deshalb fordern die Bauern, dass der venezolanische Staat ihnen eine spezielle Treibstoffquote zuweist. Diese Forderung ist gerecht, sie ist aber auch notwendig wegen der Ernährungssouveränität, die umso wichtiger in Zeiten der Blockade ist.

Luis Velázquez: Die Sanktionen haben viel Leid über die Menschen gebracht. Für uns sind die Beschaffung von Betriebsmitteln und der Marktzugang für unsere Produkte die wichtigsten Probleme. Betriebsmittel waren zuerst nirgends zu finden. Dann tauchten sie auf dem Schwarzmarkt auf, jetzt sind sie verfügbar, aber zu Preisen, die fast nicht zu bezahlen sind. Die Kosten beispielsweise für Tomaten können sich auf zwei- bis dreitausend Dollar belaufen, wenn man Saatgut, Betriebsmittel und die Arbeitskosten zusammenzählt.

Einen Vorteil haben wir aber: "Pueblo a Pueblo". Ohne diese Organisation wären unsere Straßen in einem schrecklichen Zustand, was unsere Produktion erheblich reduzieren würde. Außerdem hilft "Pueblo a Pueblo" den Produzenten bei der Abkehr von der kommerziellen giftbelasteten Landwirtschaft.

Diese Jahre sind schrecklich gewesen, aber Venezuela ist ein reiches Land. Wenn wir hart arbeiten und uns gut organisieren, dann werden wir es schaffen, aus dem Loch herauszukommen. Aber es gibt noch etwas, das gebraucht wird. Wir können nicht erwarten, dass der imperialistische Feind seine Blockade löst, aber wir sollten von unserer Regierung erwarten können, dass sie für die kleinbäuerliche Landwirtschaft das Erforderliche tut.

Wir sind diejenigen, die das venezolanische Volk ernähren, und nicht die Großkonzerne. Was bedeutet, dass der Staat den Campesinos den Zugang zu Betriebsmitteln und Treibstoff möglich machen muss. Außerdem sollte die Regierung "Pueblo a Pueblo" und anderen Organisationen, die mit kleinen und mittleren Erzeugern kooperieren, dabei helfen, dass unsere Ernte wirklich bis zu den Haushalten der Arbeiter gelangt.

Für einen Campesino gibt es keine größere Befriedigung, als gutes, gesundes Essen herzustellen und es den Familien zu bringen, die - ob Regen oder Sonnenschein - beschlossen haben, hier in Venezuela zu bleiben.

Antonio Bracamonte: Die Blockade hat uns dazu gebracht, "mit den Fingernägeln zu arbeiten". Ich zum Beispiel hatte zehntausend Köpfe Sellerie gepflanzt, aber jetzt sind es nur noch tausend. Insgesamt bin ich bei 25 Prozent meiner Kapazität, aber es gab Zeiten, in denen war die Produktion auf Null. Das war tragisch. In diesen Zeiten hat uns der conuco [Subsistenzanbau] am Leben gehalten.

Die Betriebskosten sind zu hoch, was wiederum soziale Kosten für meine Familie, die Gemeinde und für das ganze Land hat.

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Campesinos von Pueblo a Pueblo in Carache
Campesinos von Pueblo a Pueblo in Carache

Die Blockade ist grausam und die venezolanische Opposition ist ohne Herz. Natürlich wollten die USA unsere Regierung sanktionieren und stürzen, aber dazu brauchten sie eine Marionette wie [den ehemaligen selbsternannten "Präsidenten" Juán] Guaidó und seine Mafia. Die waren es, die die Blockade vom Weißen Haus gefordert hatten. Und das werden wir nie vergessen!

Die USA sind ein dekadentes Imperium, und sie werden alles tun, um ihre politische, wirtschaftliche und militärische Vorherrschaft zu behalten. Deshalb ist ihre Politik auch so brutal. Aber wir sind ein starkes Volk, und wir sind entschlossen, hier zu bleiben ‒ im Land von Bolívar und Chávez ‒ auch wenn wir dafür Baumwurzeln essen müssen.

Ana Daniela Dávila: Blockade und Pandemie hatten verheerende Auswirkungen auf die Produktion, aber wir von "Pueblo a Pueblo" sind immer Optimisten. Die Krise hatte auch eine positive Seite: Die Tatsache, dass der Kauf von Agrochemikalien schwierig wurde, weckte Interesse an agrarökologischen Techniken. "Pueblo a Pueblo" hat Neues dabei geschaffen mit seinen Workshops zur Verbreitung derartiger Methoden.  Außerdem gibt es Traditionelles wie den conuco, der in ländlichen Gebieten Menschen das Leben sichert.

Carmen Marquina: Sie [die USA] greifen an, wo es am meisten weh tut: bei der Fähigkeit des Landes, die eigenen Lebensmittel herzustellen.

Nun kann man einwenden: Die Campesinos in Carache haben doch ihr Land, sie pflügen die Felder mit Pferden und mit Ochsen, also sollte die Tatsache, dass Venezuela kein Öl verkaufen kann, kaum Auswirkungen haben? Aber das stimmt nicht. Die Produktion der Campesinos geschieht nicht im leeren Raum.

Wir befinden uns hier in El Potrero, einer kleinen Gemeinde, von Carache kilometerweit entfernt. Ohne Treibstoff kommen unsere Produkte nicht zur Stadt und wir nicht zum Arzt.

Dazu kommt das Problem der Dollarisierung, das die kleinen Produzenten wie ein Meteorschlag trifft. Die Produktionskosten sind in die Höhe geschossen. Hier bauen wir Zwiebeln an, und unsere Produktion ging auf die Hälfte. Seit der Krieg begonnen hat, hatten wir Verluste.

Obendrein hat die Krise soziale Aspekte. Wir halten die Schule mit schierer Willenskraft geöffnet: Der Kommunale Rat unterstützt den Lehrer, was sehr wichtig ist, denn sein Gehalt sichert dem Lehrer nicht die Existenz. Es ist auch ein Problem, die Kinder bis zum Abitur zu bringen. Die Oberschule ist weit weg, und wenn es keinen Treibstoff gibt, dann verschwinden die jungen Leute aus der Schule.

Nadia Linares: Wenn die Leute uns nach den Auswirkungen der Blockade fragen, dann sprechen wir meistens über die Dollarisierung der Betriebsmittel und über die Benzinpreise, die manchmal auf zwei und drei Dollar pro Liter angestiegen sind [der offizielle Preis liegt bei 50 Cent]. All das hat zu drastischen Produktionsrückgängen geführt, aber es gibt andere Aspekte, über die wir selten reden.

Die Blockade hat dazu geführt, dass viele Kinder die Schule abgebrochen haben, weil der Schulzugang erschwert ist und viele Lehrerstellen nicht besetzt sind. Auch der Zugang zur Gesundheitsversorgung und zur medizinischen Behandlung ist wegen hoher Kosten schwierig. Selbst alltägliche Dinge wie Geburten werden zur Tortur, wenn Krankenhäuser kilometerweit entfernt sind. Kürzlich musste eine Compañera, bei der die Wehen eingesetzt hatten, mit dem Motorrad in die Klinik.

Aus Gründen wie diesen haben viele Carache verlassen. Sie wandern aus nach Kolumbien oder andere Länder, wo sie sich bessere Bedingungen erwarten. Das ist verständlich, aber was uns betrifft, wir bleiben hier. Cahingó [in der Region Carache] ist ein wunderschönes Tal und hier wollen wir unsere Kinder großziehen.

Ronald Moreno: Die Menschen hier leben bescheiden, aber mit Würde. Das Leben der Campesinos ist nicht einfach, aber es lohnt die Entbehrungen. Ich spüre das im Innersten, ich bin damit nicht der einzige.

Ich lebte in Barquisimeto [eine Stadt vier Stunden von Carache weg] und ich beschloss vor Jahren, hierher zurück zu kommen und den Hof mit meinen Eltern zu betreiben. Wir essen vielleicht nicht so viel Fleisch, wie wir es gerne täten, aber wir werden nicht verhungern, wenn wir hier auf dem Land leben.

24. Mai 2023

venezuelanalysis

  • 1. Ricardo Miranda, Koordinierungsteam, Mathematiker, in jungen Jahren Guerilla-Aktivist, Gründer der Bauernbewegung von Jirajara
  • 2. Laura Lorenzo, Gründerin der Bauernbewegung von Jirajara, nationale Koordinatorin
  • 3. Salvador Salas, Koordinierungsteam
  • 4. Gabriel Gil, Landwirt, Erzieher, Koordinierungsteam
  • 5. Ana Dávila, Grundlagen- und Vertriebsteam
  • 6. Die Kommunalen Räte wurden 2006 von Chávez als lokale Einheiten der Basisorganisation eingeführt, mit demokratisch gewählten Sprechern und Kommissionen für Bereiche wie Gesundheit, Bildung und öffentliche Dienstleistungen. In den Kommunen sind eine Reihe von Kommunalen Räten sowie Unternehmen in gesellschaftlichem Besitz und soziale Bewegungen zusammengeschlossen, um eine Basisstruktur der Selbstverwaltung in einem bestimmten Gebiet zu bilden. Ihr höchstes Organ ist eine Bürgerversammlung